CLAUDE SCHRYER
ELEKTROAKUSTISCHE ÖKOLOGIE IN KANADA:
FAHRRADORCHESTER & RADIOPIRATEN
Drei Installationen/Performances vom
"7e Printemps électroacoustique" (Juni 1992)




Im Prolog zu ZEITGLEICH heißt es: "Gleichgültig, von welchem Ort und aus welcher Zeit sie stammen ... sie werden zeitgleich. [Zeitgleich] bezieht sich u.a. auch auf das praktische Problem von mehreren Installationen in einem Raum oder auf die Frage der Simultaneität der Rezeption von gesendeten Arbeiten durch die Hörer/SeherInnen."

Das Thema dieser Veranstaltung - Klanginstallation und Medien-komposition im digitalen Zeitalter - hat mich sofort fasziniert, denn ich halte die Kombination von ortsspezifischen Instal-lationen und Elektroakustik für ein besonders provokatives, ausdrucksstarkes und reizvolles Medium, und ich glaube, die Zeit ist reif für eine eingehende Erörterung der Bedeutung des Klangs in Medieninstallationen.

Heidi Grundmanns Einladung zu ZEITGLEICH folgte ich nicht als Theoretiker auf diesem Gebiet, sondern als Klangkünstler und Produzent von praktischen Arbeiten, in denen ich versuche, die Verknüpfung von Installationskunst mit Elektroakustik und akustischer Ökologie zu sondieren und zu hinterfragen.

Obwohl ich gelernter Komponist bin, fällt es mir schwer, den Konzertsaal als Aufführungsort meiner eigenen Werke und der Klangkunst anderer zu akzeptieren. Seit 1985 erkunde ich deshalb alternative Aufführungsorte, Stilrichtungen, Lösungsansätze und Kompositionsmethoden. Insbesondere befasse ich mich mit medialen Klanginstallationen, die zwei meiner Lieblingsthemen in sich vereinen: die Umwelt und die elektronischen Medien.

Ich bin ein Anhänger des kanadischen Komponisten R. Murray Schafer, der die akustische Ökologie als "Studium der Beziehungen der Klänge zum Leben und zur Gesellschaft" definiert. Ebenso überzeugt mich die Vision eines anderen bedeutenden kanadischen Philosophen und Kulturtheoretikers, Marshall McLuhan, und seine Theorie der Harmonisierung der elektronischen Technologie und der modernen Gesellschaft. Ich betrachte mich deshalb als Kind von Schafers akustischer Ökologie und von McLuhans Global Village - vielleicht bin ich ein typischer Kanadier, geprägt von geographischen Gege-benheiten, Zweisprachigkeit und einer Kultur der Telekom-munikation.

1989, als Reaktion auf die sich verschärfende weltweite Umweltkrise, wurde ich erstmals in der Umweltbewegung aktiv, auf politischer und auf künstlerischer Ebene. Als ausgebildeter Musiker schien es mir nur natürlich, mich mit der Klangqualität unserer Umwelt auseinanderzusetzen. Anfangs folgte ich den Spuren von KomponistInnen wie R. Murray Schafer, Hildegard Westerkamp und Barry Truax vom World Soundscape Project der Simon Fraser University in Vancouver, deren Ziel es war, "gemeinsame Forschungsarbeit über die wissenschaftlichen, soziologischen und ästhetischen Aspekte der akustischen Umwelt zu leisten". Später begann ich, meine eigenen Ideen zu Klanglandschaften und zur Rolle des Künst-lers in ihnen zu artikulieren.

Der folgende kurze Überblick über meine Arbeiten und Ge-meinschaftsprojekte soll Ihnen eine Vorstellung von meinem bisherigen künstlerischen Weg vermitteln. Von 1990 bis 1992 war ich mit der Realisierung des Marche sonore I - le matin du monde (Soundwalk I - The Morning of the World) be-schäftigt, einem Projekt für den französischsprachigen Rundfunk in Zusammenarbeit mit der Radioproduzentin Hélène Prévost. Darin stelle ich die Frage "Was verstehst Du unter akustischer Ökologie" und "Kannst Du beschreiben, was Du gerade hörst?" Über ein Jahr lang reiste ich quer durch Europa und Nordamerika, hörte Hunderten Menschen in lebendigen Klanglandschaften zu, zeichnete ihre Beiträge auf und stellte daraus eine poetische Collage zusammen. Die Kompositionsarbeit für "Marche sonore" half mir, den Begriff der akustischen Ökologie aus der Sicht der ZuhörerInnen zu verstehen und Aufzeichnungsverfahren so einzusetzen, daß ich meine unmittelbare Umgebung besser hören konnte. Von 1991 bis 1993 realisierte ich eine weitere Radioarbeit, diesmal auf Englisch, mit dem Titel Revisiting the World Sound-scape Project, in der ich der Geschichte und den Auswirkun-gen des World Soundscape Project der frühen 70er Jahre nachspürte. Im Rahmen dieses Projekts konnte ich die Gründungsmitglieder des WSP (Bruce Davis, Peter Huse, Hildegard Westerkamp, Barry Truax und R. Murray Schafer) in Interviews dazu befragen, was sie fünfundzwanzig Jahre danach von ihrer damaligen Arbeit hielten. 1992 war ich Leiter des "7e Printemps électroacoustique", eines Festivals der elektroakustischen Musik zum Thema akustische Ökologie in Montreal. Das Angebot des "7e Printemps" umfaßte experimentelle Radioarbeiten, Installationen, Freilichtperformances, Vorführungen mit erfundenen Instrumenten, Workshops und Tagungen. Dieses Festival wurde zur tragenden Säule meiner Forschungsarbeit über die Beziehung zwischen Elektroakustik und Ökologie und bildet das Hauptthema meines heutigen Vortrags. 1993 komponierte ich eine akusmatische Arbeit auf Band mit dem Titel Les voix de l'écologie, die auf der litera-rischen Vorlage "The Tuning of the World" von R. Murray Schafer basiert. In dieser Arbeit versuchte ich, dem Konzept des Buchs musikalisches Leben einzuhauchen. Ebenfalls 1993 war ich an der Gründung des World Forum for Acoustic Eco-logy (WFAE) beteiligt, einer internationalen Vereinigung von AktivistInnen auf dem Gebiet der akustischen Ökologie, die im August 1993 anläßlich der ersten internationalen Konferenz über akustische Ökologie am Banff Centre for the Arts gegründet wurde.

***

Die Industrialisierung und die Entwicklung neuer Technologien haben unsere Klang-Umwelt grundlegend verändert; neue Klangfüllen sind aufgetaucht, haben unsere Auffassung vom Hören geändert und entscheidend zum Wandel der ästhe-tischen Kriterien beigetragen. Wie läßt sich nun das Konzept der akustischen Ökologie mit der Praxis in Musik und Elektro-akustik in Einklang bringen?

Der Begriff "Ökologie" ist erst vor kurzem im Bereich der Elektroakustik aufgetaucht. Viele KünstlerInnen der verschieden-sten Disziplinen befassen sich aktiv mit der Erforschung von Klanglandschaften und zeigen dabei großes Feingefühl für diese Thematik. Ihre interessanten und aktuellen Reflexionen über kompositorische Probleme bereichern die Debatte und tragen zur kritischen Auseinandersetzung mit der Qualität und Organisation von Klanglandschaften im urbanen und natürlichen Umfeld bei. Das Besondere an ihnen und ihrer Arbeit besteht darin, daß sie ein aufmerksames und analytisches Ohr für Klangphänomene haben und unterschiedliche Klänge auf kategorisch-strenge Weise ordnen, um ihnen so künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Fast alle diese KünstlerInnen betrachten ihr gesellschaftliches Engagement als eine Rolle, mit der sie zur Ausgewogenheit und Qualität der Klangformen in unserer Gesellschaft beitragen.

Mich interessiert die Rolle, die der Medienkünstler im ökolo-gischen Bereich spielen kann, und umgekehrt die Rolle, die der ökologisch orientierte Künstler im Medienbereich spielen kann.

Die kanadische Wissenschaftlerin Ursula Franklin hat den Begriff der "kulturellen Konformität" geprägt, in der "die Technologie einer Aktivität diese Aktivität bereits definiert und damit jegliche Alternative im vorhinein ausschließt". Bedeutet das, daß wir unter der Last der elektronischen Technologie ersticken, unfähig, sie zu beherrschen oder zu lenken?

Diese Fragen stellen sich mir, wenn ich eine Arbeit zum Thema akustische Ökologie komponiere oder produziere: Welchen Bezug hat meine Arbeit zur Umwelt, wie wir sie wahrnehmen? Trägt meine Arbeit dazu bei, unseren Standort in dieser Umwelt zu bestimmen?

Der Ökologe Pierre Dansereau, Quebec, spricht von "einer Zukunft, die unvorstellbar ist und die in nichts dem ähnelt, was bisher in der Geschichte der Menschheit geschehen ist".

Meiner Überzeugung nach kann der Künstler zum Sprachrohr des kollektiven Gedächtnisses werden und uns helfen, unsere akustische Umwelt - die wir selten wirklich hören - besser zu verstehen. In einer Situation der Dekontextualisierung und der Veränderung kann der Künstler neue Assoziationen, akust-ische Spiele, poetische Metaphern anbieten und grundsätz-liche Fragen zum Wesen der Koexistenz von elektronischer Technologie und Ökologie stellen.

1990 wurde ich von der Association pour la création et la recherche en électroacoustiques du Québec (ACREQ) gebeten, ein Festival zum Thema Umwelt zu organisieren. Ich übernahm die Gestaltung des "7e Printemps électroacoustique" unter der Bedingung, daß die Veranstaltung unter dem Motto der akustischen Ökologie (dem Studium der lebendigen Klänge) im Gegensatz zur Umwelt (unserer unmittelbaren Umgebung) stehen müßte. Das Festival fand im Juni 1992 statt, während der 350-Jahr-Feiern der Gründung der Stadt Montreal durch die Europäer. Die Ziele der Veran-staltung waren "die Schärfung des Hörsinns der Mont-realer, ihre Sensibilisierung für die Vielfalt der Klangland-schaft, in der sie leben", sowie "die Schaffung eines Kunst-ereignisses, das außerhalb der traditionellen Konzert-gebäude stattfindet und mit öffentlichen Orten verschmilzt".

In meinem Vortrag möchte ich auf drei Projekte näher eingehen, die am "7e Printemps électroacoustique" realisiert wurden. Alle drei Werke verbinden Klanginstallation und Medienkomposition in innovativer und originärer Weise und passen sehr gut zum Thema von ZEITGLEICH. Ich hoffe, daß sie als Modelle für die zukünftige Erforschung dieses Gebiets dienen können.



continue ...


[TOP]