MAX NEUHAUS
AUDIUM



Das war 1977, und kurz nach Beendigung dieser Arbeit begann ich, ein internationales Projekt mit dem Namen "Audium" zu konzipieren. Ich wollte Menschen unterschiedlicher Muttersprache in diesen nonverbalen Dialog einbeziehen. Außerdem wollte ich mich noch mehr aus dem eigentlichen Sendeprozeß ausnehmen und virtuelle Räume in einem völlig autonomen System schaffen. Ich hatte auch noch andere neue Ideen, auf die ich später zurückkomme.

Für mich ist ein elektronisches System eine besondere Darstellungsform für eine Idee. Schriftliche Aufzeichnungen auf Papier oder auch Zeichnungen sind statische Darstellungsformen. Wenn man aber einen Computer mit einer Idee programmiert, erhält man nicht nur eine schriftliche Darstellung, sondern das System erfaßt auch die Idee - die Darstellung wird dadurch dynamisch. Ich wollte für "Audium" ein System schaffen, das die Idee nicht nur darstellen, sondern auch umsetzen konnte.

Alle meine früheren Systeme arbeiteten mit Analogschaltungen, weil es damals keine andere Technologie gab. Für dieses Projekt wollte ich völlige Bewegungsfreiheit der digitalen Welt. Leider gab es aber 1980 noch keine digitalisierte Klangwelt. Ich stieß zwar auf eine sehr seltsame Firma in Massachusetts, die einen digitalen Signalprozessor herstellte, der mindestens hundert Kilo wog. (Die Firma war sehr neugierig, wer ich war, denn ihr einziger anderer Kunde war die US-Navy.) Theoretisch hätte man etwas aus dem Gerät machen können; aber das hätte bedeutet, ganz von vorne anzufangen und zehn Jahre lang Assemblerprogramme zu schreiben. In den achtziger Jahren konzentrierte ich mich also auf andere Dinge.

Anfang der neunziger Jahre fiel mir auf, daß die meisten Mittel zur Verwirklichung meiner digitalen Träume als Klangprozessoren und Synthesizer in den Musikgeschäften zu kaufen waren. Und es gab auch einige Programmiersprachen, um diese technischen Mittel über die ursprünglichen Absichten und Ziele der Hersteller hinaus einzusetzen. 1990 begann ich mit den Forschungsarbeiten für ein Projekt, das ich "Audium Model" nannte.

Das Schwierigste bei der Verwirklichung großer neuer Ideen ist es, sie denjenigen zu erklären, die bei ihrer Umsetzung helfen können. Man kann über sie sprechen und schreiben, aber bei einer wirklich neuen Idee hat man per definitionem keine Anhaltspunkte. Man verlangt also von den Leuten, sich das vorzustellen, was man sich selbst vorstellt, indem man es in einer fremden Sprache andeutet.

"Audium Model" ist nicht nur eine eigenständige Arbeit, sondern auch der erste Schritt in der ästhetischen Erforschung des Gesamtprojekts "Audium" und die Umsetzung seiner grundlegenden Konzepte. Es besteht aus einer speziellen Telefonzelle für zwei Personen: zwei Räumen mit je einer durchsichtigen Wand, in die eine Tür eingebaut ist. In jedem Raum befindet sich ein an der Wand montierter Telefonhörer. Durch die Anordnung der Räume haben die Gesprächspartner, wie bei einem normalen Telefongespräch, keinen Sichtkontakt.

Der Gesprächsaufbau erfolgt über einen dritten Teilnehmer - das Computersystem. Das akustische Ergebnis der Klangaktivitäten zwischen den drei Teilnehmern wird über Lautsprecher übertragen, die außerhalb der Zelle montiert sind.

Das sind also die Grundkomponenten von "Audium": Die Telefonhörer stehen für beliebige Telefone, der Computer fungiert als Moderator, und die Lautsprecher außerhalb der Telefonzellen sind das Sendemedium.

Der Computer hat zwei Aufgaben: Erstens tritt er in einen Klangdialog mit den beiden Gesprächspartnern, und zweitens stellt er das Instrument dar, auf dem sie mit ihrer Stimme spielen.

Das Rahmengerüst des Projekts, wie oben beschrieben, steht mittlerweile fest. Derzeit beschäftigte ich mich mit der Ausarbeitung der restlichen Komponenten. Das Blockdiagramm zeigt den aktuellen Stand des Informations- und Klangflusses, wie ich ihn mir vorstelle.

Die Abbildung zeigt einen Pfeil, der vom Computer zur Hörkapsel der beiden Telefone führt. Es handelt sich dabei um eine neue Idee für die Rundfunkarbeiten - ich bezeichne sie als aktive Partitur, als Dialog zwischen den teilnehmenden Personen und der Arbeit selbst.

Während wir sprechen, hören wir gleichzeitig den Klängen zu, die wir erzeugen, und modifizieren unseren Stimmapparat entsprechend den Phonemen, die wir aussprechen wollen. Wenn wir uns selbst nicht hören, können wir auch nicht artikuliert sprechen; wir brauchen dieses permanente Feedback unser ganzes Leben lang. Ich möchte diesem Feedback eine weitere Dimension hinzufügen.

Trotz der allgemeinen Abneigung der Wissenschaft gegen das Studium der Sprache der Intonation hat sich in den letzten fünfzig Jahren eine Reihe von Forschern mit diesem Thema auseinandergesetzt - die meisten auf der Suche nach einem Mittel zur Quantifizierung von Emotionen, viele auf der Suche nach einer Art Lügendetektor oder finanziellen Vorteilen. Infolgedessen gibt es heute einige akustische Parameter für die Intonation. Die Quantifizierung ihrer Bedeutung ist eine andere Frage, die aber für dieses Projekt nicht relevant ist.

Der Dialog zwischen Audium und den Personen in den Telefonzellen erfolgt über die Sprache der Intonation. Audium "erkennt" anhand der Intonation die vokalen Aussagen einer Person und reagiert darauf durch die permanente Einspeisung von Klängen in die Hörkapsel dieser Person. Es entsteht also ein ganz spezielles Klangfeedback für jede Person, die stimmlich tätig wird. Ich hoffe, daß wir uns dadurch von den stereotypen Vorstellungen von Musik lösen können und die Teilnehmer dadurch aus ihrer Befangenheit und ihren vorgefaßten Meinungen geführt werden.

Die akustischen Parameter der Intonation setzen sich natürlich aus Grundschwingungsfrequenz, Amplitude, Formantbereich und Spektrum zusammen. Ich arbeite mit einem selbstgebauten System, das einige dieser Parameter in Echtzeit aus zwei Personen gleichzeitig gewinnen kann. Darüber hinaus habe ich ein neuronales Netz implementiert, das die einstufige Kategorisierung und Abbildung von analogen Vektoren, ebenfalls in Echtzeit, ermöglicht1. Ein solches Netz kann zur Generalisierung eingesetzt werden, zur Entscheidungsfindung durch Schlußfolgerung und Extrapolation. Anders als ein Backpropagation-Netz, das erst einige Stunden eingelernt werden muß, lernt es sofort und braucht nur zehn Millisekunden, um eine Kategorie zu finden oder zu erlernen.

Auf diesen Komponenten werde ich das "Gefühl" des Werkes für die stimmliche Aktivität der Teilnehmer und die resultierende aktive Partitur aufbauen.

Darüber hinaus besteht Audium auch aus einem Instrument, das mit der Stimme gespielt werden kann und den Ausgabeklang erzeugt. Das Instrument wird sich wiederum während des Spielens der stimmlichen Aktivität einer Person anpassen. Derzeit experimentiere ich mit imaginären Saitenräumen, mit der digitalen Umsetzung von sechs Saiten, deren Charakteristika in Echtzeit moduliert werden können. Wegen der vielen eingehenden Informationen über Frequenz und Amplitude kann ich die Saite nicht nur mit einem Stimmen-Klang aktivieren: ich kann sie auch dazu bringen, auf das Medium, das sie berührt, zu hören und zu reagieren. Mir gefällt die Vorstellung, eine zuhörende Saite mit der Zunge aus einer Entfernung von 10 000 Kilometern streichen oder schlagen zu können - über das Telefon.

Natürlich wird ein erstes Audium-Modell dem mehrsprachigen Charakter des Gesamtprojekts noch nicht gerecht. Der nächste Schritt wäre die Umsetzung mehrerer Audium-Modelle in verschiedenen Sprachgruppen und deren Verbindung. Das ist recht einfach, sobald das erste Audium-Modell steht. Erst der Netzwerkverbund aller Audium-Modelle als globale Installation ergibt das wahre "Audium".

Seit dem Projekt "Radio Net" verfolge ich mit diesen Rundfunkarbeiten auch eine Idee, die ich hoffentlich mit "Audium" verwirklichen kann: die Idee einer Radioinstallation. Bisher waren alle meine Arbeiten "Radio-Events", weil das der Vorstellung der breiten Masse von Radio entspricht: Radio bietet Events - Radiosendungen. Aber warum nicht auch Radioinstallationen?

Obwohl solche Radioevents viel Aufmerksamkeit erregen und zum Mitmachen anregen, liegt gerade darin ihre Problematik. In "Radio Net" schafften es 10 000 durchzukommen. Das heißt wahrscheinlich auch, daß 100 000 es nicht schafften. Es gibt keine Möglichkeit, für eine solche Sendung genügend Leitungen zu legen. Je mehr Leitungen, desto mehr Hörer wollen anrufen. Radioevents verhindern auch den Gruppendialog. Jeder weiß, daß ihm nur eine gewisse Zeit zur Verfügung steht, und möchte sein Sprüchlein loswerden.

Aber einen Raum, der auf Dauer existiert, kann man jederzeit betreten und sich darin aufhalten, solange man will. Er ermöglicht eine natürliche, langfristige Evolution dieser neuen Art des Klangdialogs. Er wird zur Wesenheit, zum virtuellen Ort.

Spüre ich bereits, wie die Radiomacher in Panik geraten?

Natürlich kostet es sehr viel Geld, einen Radiosender zu betreiben, und niemand hat je gehört, daß man einen Sender nur einem einzigen Zweck widmet.

Oder doch?

Viele Radiosender beschränken sich auf ein Thema, z.B. auf Rockmusik, Nachrichten oder Sport. "Audium" ist eine etwas andere Art der Programmgestaltung. Und man hofft doch, daß sein direkter und unberechenbarer Charakter, sein Entwicklungspotential und seine Internationalität dazu beitragen, dieses Programm um einiges interessanter zu machen als viele andere.

Ich höre schon die leisen Stimmen: "Aber das Band ist so voll, es gibt auch ohne eine so merkwürdige Radiostation nicht genug Frequenzen".

Gerade jetzt wird das AM-Band mit vielen seiner Sender aufgelassen - zugunsten von FM. "Audium" bräuchte nur ein paar dieser unerwünschten Sender, um in diesem unbesetzten Territorium ganz glücklich zu leben.

"Audium" wäre auch viel weniger kostenintensiv als andere Arten der Programmgestaltung. Der Hauptkostenfaktor bei Radiostationen ist schließlich nicht die technische Ausrüstung oder der Energieaufwand, sondern die Produktion von Radiosendungen.

"Audium" braucht auch kein Personal. Es ist einfach ein elektronisches System, das einerseits mit dem Telefonnetz und andererseits mit dem Sender verbunden ist. "Audium" gestaltet sich selbst, oder genauer gesagt: Es wird von denen gestaltet, die es verwenden.


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