MAX NEUHAUS
RUNDFUNK ARBEITEN: RADIO NET



Nachdem ich schon für Chicago ein mit der Stimme spielbares Instrument konstruiert hatte, wollte ich diesmal die Anrufer auch das Mischen und Gruppieren selbst besorgen lassen. Da ich ohnehin nicht an fünf Orten gleichzeitig sein konnte, beschloß ich, mich komplett aus dem Prozeß auszuschalten und ein autonomes elektronisches System zu gestalten.

In "Radio Net" erfolgte das Mischen durch eine Art spezielles Zeitmultiplexverfahren. Obwohl als konventioneller Mix von Eingabesignalen hörbar, wurde der Ausgang sehr schnell von Eingang zu Eingang geschaltet. Die wahrgenommene Lautstärke in der Mischung war abhängig von der Verweilzeit des Ausgangs. Diese Methode ermöglichte automatisches Mischen anhand einer Analyse der einzelnen Signale; als Kriterium galt, daß das Signal mit der jeweils höchsten Tonhöhe das Ausgabesignal für diesen Sekundenbruchteil darstellte.

Eine Woche vor der Sendung lieferte ich diese automatischen Mischpulte an die Tontechniker der Radiosender in den fünf Städten, wo ich sie per Telefon zusammenschalten und durchprüfen ließ.

Damals wurden die Radioprogramme von NPR über eine sogenannte Ringleitung gesendet, d.h. über Telefonleitungen, die alle zweihundert Sender landesweit in einer großen Schleife verbanden. Jeder Sender am Netz konnte ein Programm in allen anderen Sendern ausstrahlen, indem er sich einfach in die Schleife einklinkte.

Ich erkannte, daß sich diese Schleife in einen Klang-Transformator umwandeln ließ, und führte 1974 einige Vorversuche durch. Für die Sendung entschied ich mich für eine Konfiguration mit fünf Schleifen, eine für jede Stadt, die alle über die NPR-Studios in Washington liefen. Anstelle von offenen Schleifen wie bei einer normalen Sendung wollte ich aber geschlossene Schleifen mit einem Frequenzmodulator in jeder Schleife, damit die Klänge zirkulieren konnten. Daraus entstand ein riesiger "Klang-Transformatorkasten" mit einer Breite von 2400 km, einer Länge von 4800 km und fünf Ein- und Ausgängen in Washington.

Für den Tag vor der Sendung hatten wir eine Art "Kostümprobe" angesetzt, um ein Gefühl für das Ganze zu bekommen. Es ist eine heikle Sache, in einer so langen Leitungsschleife zu operieren. Sogar mit Frequenzmodulator und Verstärkungsregelung war jede Schleife eine Art Lebewesen, das sehr schnell außer Kontrolle geraten konnte. Während der Sendung hatte ich eine Konferenzschaltung mit den fünf Tontechnikern. Ich konnte in jede Schleife hineinhören und die Techniker jederzeit bitten, Veränderungen vorzunehmen. Meine Aufgabe war es, dieses Riesentier aus fünf Schleifen mit so wenig Intervention wie möglich im Gleichgewicht zu halten.

In allen früheren Arbeiten hatte ich es den Anrufern überlassen, über die Art der telefonisch übermittelten Klänge zu entscheiden. In diesem Projekt wollte ich sie anhand einer Vorgabe dazu bringen, über die "Hör mal, ich bin im Radio" Phase hinauszugehen und einander zuzuhören. Die Frage war nur, welche Vorgabe das sein sollte - wie bringt man eine gute halbe Millionen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Intentionen und Auffassungen dazu, etwas Bestimmtes zu tun? Ich beschloß, sie einfach zum Pfeifen aufzufordern.

Wenn man eine halbe Million Menschen auffordert, irgendetwas zu tun, und sei es nur zu pfeifen, kommen natürlich die unterschiedlichsten Ergebnisse heraus. Einige pfeifen. Andere weigern sich. Diejenigen, die pfeifen wollen, entscheiden, wie oder was sie pfeifen. Obwohl meine Aufforderung sehr spezifisch klingt, war sie für mich eine eher großzügige Vorgabe, um einen Klangkörper aus ganz unterschiedlichen Tonhöhen zu erhalten.

Während der Sendung durchliefen die telefonisch übermittelten Klänge das automatische Mischpult der betreffenden Stadt und bildeten Schleifen. Bei jedem Umlauf bildeten die Klänge Schichten ihrer selbst und überlagerten sich in unterschiedlichen Tonhöhen, bevor sie allmählich ausklangen. Es war ein schöner Sonntagnachmittag, an dem zwei Stunden lang zehntausend Menschen anriefen und Klänge produzierten.

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