Wolfgang Hagen: "ÜBER DAS RADIO (HINAUS)"

[3] Weh dem, der sieht

Das Radio: ein aufgerissenes Fenster der NORAG in Deutschland, der RAVAG in Österreich. Ein Medium fürs Private, einige zehntausend Menschen unsichtbar mit Kopfhörer und Detektor verbindend. "Weh dem, der sieht" überschreibt Egon Erwin Kisch, ein Journalist auf der Höhe seiner Zeit, die Reportage aus dem Regieraum von 1925. Ihn fasziniert, wer hier die Fäden in der Hand hält. Der Mann im Verstärkerraum ist es. Er ist der einzige, der sieht: "den Conferencier (im Leinenkittel), den Kapellmeister (in Hemdsärmeln), die Philharmoniker (mit aufgeknöpftem Hemdkragen), die (uralte) jugendliche Sängerin; er sieht, daß eine Badewanne mit Dusche ... bald eine Meeresbrandung, bald einen Wasserfall, bald den Ruderschlag eines Bootes bedeutet, ... während den Platzregen das Schütteln von Erbsen auf einem Tamburin sinnfällig ersetzt. (...) Er sieht ... gleichmütige Gesichter in leidenschaftlichen Szenen, häßliche Darsteller in schönen Rollen, ... das erregte Volk des alten Genua im modernen Straßenanzug "Rhabarber" murmeln, die Verschwörer, gelangweilt dasitzend, einander das furchtbar klingende Geheimnis "Siebenundsechzig-sechsundsiebzig" zutuscheln, ach, er schaut und durchschaut den ganzen Schwindel, er sieht, das ist genug des Unglücks, er sieht, wo andere nur hören". [1]

Alles Schwindel, sagt Kisch vom Standpunkt des Technikers aus. Der Techniker sieht in dem Radio von 1925 nur Datenflüsse; und indem er sie in Gang bringt und kontrolliert, hat er am wenigsten mit dem Radio zu tun. Ihm gehen alle Illusionen verloren. Dafür aber ist er, mit Kopfhörern bewaffnet, auch der Manipulator der hier herrschenden Zeiten; ja, er "hört sogar noch schneller, als wenn er direkt hören würde. Soll z.B. im Rahmen eines Sendespiels ein fernes Trompetensignal erklingen, so wird es draußen im Flur geblasen, und unser Mann im Verstärkerraum vernimmt es, nachdem er es über Königswusterhausen gehört hat, eine halbe Sekunde später zum zweiten Male: vom Korridor her, in natura."

Dieser kleine Kisch-Text von 1925 stellt für alle nachfolgenden Theorien des Hörspiels und des Radios die Ausgangsfrage: von wo aus beschreiben wir das Radio? Von diesseits oder von jenseits der schalldichten Scheibe? Da wo wir sehen, oder dort, wo wir nichts sehen? Von wo wir sprechen, oder wo wir uns hören?

Dieser Schnitt, dieser Bruch, diese Trennachse durchzieht das Radio und von ihr wird auch unsere Stimme im Radio durchzogen, die auf einmal völlig anders klingt; sie durchtrennt unsere Verbindung vom Kopf zum Hals, die "eustachische Röhre", wenn wir den Kopfhörer tragen und sprechen. [2] Jeder kennt den Schock, wenn er sich das erste Mal selber in diesem Medium reden hört. Aber tertium non datur: Im Radio kann es entweder keine originale Hör-Information geben, die nicht durch das Medium selbst verfälscht oder beeinflußt wäre; oder es gibt nur originale Hör-Informationen, die original sind als mehr oder weniger brillante Verfälschung.

Die Geschichte der Hörspieltheorie dokumentiert diese eher widerstrebenden Perspektiven: es gibt diejenige Tradition, die auf die bloße Abbildungswirkung des Radios vertraut und sich damit begnügt, herkömmliche Theaterstücke, mit ein paar Strichen und Kürzungen, eins zu eins auf eine Radiobühne zu versetzen; und es gibt die andere, ursprünglichere, aber sehr viel schmalere Tradition, die bei der Technik des Mediums selbst ansetzt und den Begriff Radio-Kunst, Audio-Art verdient. Eine gespaltene Tradition bis auf den heutigen Tag.

Exponent der letztgenannten Tradition ist in den Anfängen der Frankfurter und Berliner Intendant Karl Flesch, der im Oktober 1924 mit seiner "Zauberei auf dem Sender" eines der allerersten deutschen Hörspiele produziert. Doch Karl Flesch, der in allem, was er tut den Kanal selbst thematisiert, bleibt, wie wir wissen, in der Weimarer Republik ziemlich isoliert. Fleschs ebenso visionäres wie technisch genaues Verständnis für"s Radio sagt ihm, daß der Rundfunk etwas braucht, das er damals nicht hatte: ein eigenes, selbständiges Speichermedium. Radio war in den ersten Jahrzehnten "live", ein einliniger Kanal: Aber der Hörer, so Flesch, "verlangt von seinem Apparat höchste Vollkommenheit; wird ein wirklicher Vorgang übertragen, dann möglichste Lebensnähe...; bringt aber Rundfunk selbst etwas, Musik oder Hörspiel, dann kann dem Hörer ein künstlerischer Eindruck nur aus vollkommenster technischer Präzision erwachsen. Und die ist nur zu erreichen, wenn die Vorbereitung bis zur Fixation der Darbietung auf irgendein Medium, sei es Platte, Film oder Stillesches Stahlband getrieben wird. (...) Wo eigentlich ist der ästhetische Unterschied zwischen einer toten Studio-Sendung (tot, weil ein Orchester ohne unmittelbares Publikum spielt, der Künstler ohne Antwort bleibt) und dem gleichen Vorgang, dem gleichen Effekt, wenn zwischen Vorgang und Effekt eine zeitliche Verschiebung eingetreten ist? Gleichzeitigkeit ist nur beim wirklichen Ereignis Bedingung zum Miterleben. Was aber "ereignet" sich im Senderaum?" [3]

Der Pate des deutschen wie österreichischen Radios war Marconis militärische Radiotelegrafie und nicht Edisons friedlicher Phonograf. Erst 1931 bekommen die deutschen Funkhäuser und auch die RAVAG zentnerschwere Wachsplattengeräte zu Aufnahmezwecken; vor allem für Sport und Politik, nicht fürs Hörspiel. [4]

Und auch das Selenophon, ein österreichisches Filmtonverfahren, wird von der RAVAG zwar für Völkerbund-übertragungen verwendet, im eigenen Funkhaus aber nicht eingesetzt. Warum?

Die erste Epoche des Mediums ist verhaftet im Kontext militärischer, und das heißt ab 1903: nachrichtenübertragungstechnischer Strategien. Nicht die Technik elektroakustischer Speicher, sondern die Technik elektroakustischer Wandler: Mikrophone und Lautsprecher, Verstärker, HF- und NF- Sender und Empfänger, Basis- Emitter und Gittermodulation, Gleichrichter, Amplitudentastung und Frequenzmodulation, sind ab 1923 die großen Themen bei Bredo, Czeija, Post, Industrie und Militär.

Wogegen das Telegraphon des Dänen Valdemar Poulsen, bereits 1900 auf der Weltausstellung in Paris vorgeführt, in den AEG-Labors der 20er Jahre nachgebaut (Stichwort Stillesches Stahlband), dortselbst ein tristes Dasein fristet. Was nichts, wie Flesch wußte, mit technischen Standards zu tun haben konnte: Denn Poulsen-Geräte hatten bereits auf dem Kopenhagener Technikerkongreß von 1908 auf 2500 Kilometer Draht 14 lange Stunden Debatten gespeichert. überdies war Valdemar Poulsen nicht irgendwer; sondern der damals hochberühmte Erfinder der bereits erwähnten Lichtbogensender aus dem Jahr 1903, welche, wie Bredow rühmt, ungedämpfte und damit regelbare Schwingkreise stabil produzieren konnten. Und daß es nur drei Jahre dauert, bis solche Lichtbogensender für Telegrafie und Telefonie bei der Lorenz-AG in Berlin nachgebaut werden konnten, wird Bredow ebensowenig müde, immer wieder zu rühmen. Poulsen-Lorenz, das ist der deutsche Vorsprung. Was aber seine revolutionäre Entdeckung des magnetisierbaren Tondrahts betrifft, so wird sie weder bei Bredow erwähnt, noch durch die Industrie forciert. Erst 27 Jahre später (welche Ewigkeit) finden wir ihn in den Büchern das Patent des AEG-Ingenieurs Pfleumer, der anregt, den Draht durch Papier mit aufgetragener Magnetschicht zu ersetzen. [5]

1934 wurden von BASF die ersten 50 km eines Bandes auf Plastik-Basis geliefert und von AEG die berühmte K1 gebaut, das erste Spulen-Tonbandgerät. Frequenzumfang 50 bis 10 tausend Hertz, Rauschabstand 35 dB, Bandgeschwindigkeit 100 cm pro Sekunde. Also durchaus rundfunktauglich für den Mittelwellenbetrieb. Aber es kommt weitere sieben Jahre in den Funkhäusern des Reichs nicht zum Einsatz.

Auch der Chef der Berliner Masurenallee, der Röntgenarzt Dr. Hans Flesch [6] vermochte nicht, das Haus des Rundfunks mit Speichermedien auszurüsten, die entwicklungstechnisch reif, aber medienhistorisch und damit für Radiokunst noch nicht auf der Tagesordnung standen. Machen wir also deshalb Oskar Czeija in Wien keinen Vorwurf.

Von Flesch aus geht eine lange unterbrochene Linie der künstlerischen Reflexion des Mediums in sich selbst zum heutigen Kunstradio nach Wien und auch zu Klaus Schönings Experimentalstudio in Köln. Aber daß zwischen Heidi Grundmann, Schöning und Flesch eben keine Kontinuität liegt, keine Entwicklung, sondern ein gut 40-jähriger Bruch; daß nach Walter Rutmanns "Weekend" von 1930 kaum noch etwas in Fleschs Manier zu finden ist, kann wohl nicht nur ideologische Gründe haben. Die konservative Presse sagte zu Rutmanns "Weekend": "bolschewistische Sabotage".

Das Radio der 20er Jahre in Deutschland und Österreich ist ein eindimensionales Medium, auf dem nur primäre Informationsflüsse laufen, weil sie Probe aufs Militärische sind. Flesch wird bereits 1931 abgesetzt und davongejagt, während Oskar Czeija um die gültigen Grundsätze des Mediums sehr genau weiß: Mit seinen Kurzwellenübertragungswagen, einigen mobilen Sendeeinrichtungen und seinem Selenophon ist er technisch zwar auf der Höhe der Zeit, seine medienpolitisch devote Haltung aber wird bereits 1927 deutlich, als Czeija während der Juliunruhen die RAVAG direkt in den Dienst der Polizei und der Ordnungskräfte stellt. [7]

Eigene Nachrichten kannte die RAVAG nicht; zu hören waren, bis die Nazis 1938 das Regiment übernahmen, lediglich die zensierten Verlautbarungen der regierungsamtlichen Nachrichtenstelle, die teilweise per Direktleitung ins Funkhaus geschaltet waren.

In Österreich hat es bis zum Ende der RAVAG nur ganz vereinzelte Radiokunstformen gegeben. Czeijas Interesse lag an der optimierten übertragung, an der Radiovernetzung des Heimatstaates und nicht im Radio als Produktions- und damit Kunstform. So wird 1930 ein Hörspiel aus einem fahrenden Zug (Wien-Salzburg) und wenig später ein Versuch vom fahrenden Donaudampfer "Dürnstein" in der Wachau gesendet. übertragungsexperimente. Beides in enger Kooperation mit jenem General Vaugoin, der inzwischen Chef der österreichischen Bahnen geworden war.

Wenn es von dieser Basis aus Fortschritt im Medium selbst geben sollte, so mußte er, wie wir sehen werden, in einem heillosen Umweg übers Metaphysische direkt in den Faschismus führen.

FUSSNOTE:

[1] Kisch:1928, 47 f.

[2] ... und sie durchzieht die Hörspieltheorien ebenso wie alle mathematischen Nachrichtentheorien seit Shannon und Weaver, die freilich eine knappe Generation später formuliert wurden. Für den Prozess der übertragung, schreibt Claude Shannon im Standardwerk aller Nachrichtentechniker, "ist (es) charakteristisch, daß dem Signal gewisse Dinge hinzugefügt werden, die nicht durch die Informationsquelle verursacht worden sind." Shannon u.a.:1949, 7 f. Informationskanäle haben, neben Input und Output, oder besser zwischen Transmitter und Receiver, immer ein Drittes: nämlich das Rauschen des Kanals selbst. Vereinfacht gesagt, existiert in Kommunikationskanälen wie dem Radio kein Nutzsignal ohne Störsignal. Und doch ist das Störsignal der Träger des Nutzsignals und mit ihm unlöslich verkoppelt. Meine Stimme verändert sich in dieser Verkoppelung, zuweilen bis zur Unkenntlichkeit.

[3] Flesch:1929, 122 Alles und nichts, möchte man mit Kisch antworten, solange der Senderaum nur ein Glied im eindimensionalen Datenfluß von der Wiener Johannesgasse zum Stubenringsender darstellt. Genau den will Flesch unterbrechen, um die ausgehenden Datenflüsse (die falschen Töne der Sänger, die Pannen und Versprecher, das häßliche Rauschen im schmalen Mittelwellen-Kanal) vorab auf einem eigenen, radiogemäßen Datenträger bearbeiten zu können.
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[4] Das so effektive Triergon-Filmton-Verfahren, seit Mitte der 20er Jahre einsatzbereit, wird von den neu entstehenden Anstalten nicht übernommen.

[5] Krieg:1989, S. 13

[6] Hans Flesch, dieser einflußreiche und moderne Mann, der Walter Benjamin ins Radio brachte, Bert Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe in Berlin uraufführte, Kurt Weill, Paul Hindemith und Ernst Krenek förderte, während er selbst schon als Halbjude Hauptziel der geifernden Hetze der faschistischen Presse war, war über den Frankfurter Prinzhorn-Kreis mit den neuesten Strömungen der Psychologie vertraut, anders denn seine mutigen Live-Reportage-Serien unter dem Titel "Verirrte Mikrophone", 1926 in Frankfurt und 1929 in Paris, sich nicht erklären ließen; Mikrophone, spontan und live überall in der Stadt aufgebaut. Selbst-Thematisierung des Kanals.

[7] vgl. Egert:1974, S. 93

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[4] "Die Funkwelle und der geistige Strom"