Wolfgang Hagen: "ÜBER DAS RADIO (HINAUS)"
[1] Ein Medium zwischen Krieg und Digitalisierung |
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Vom Radio ist hier in einer Runde zu sprechen, der, wie ich vermuten darf, das Medium nicht ganz unbekannt ist. 80% der Menschen einer durchschnittlichen Bevölkerung eines durchschnittlichen westeuropäischen Landes hören am Tag irgendwann einmal Radio und konsumieren, statistisch, das am meisten genutzte Medium, mit einer durchschnittlichen Hördauer von über drei Stunden pro Tag. Weit kürzer möchte ich über das Radio sprechen, ohne im Augenblick im Radio zu sprechen, und doch: genau das ist wahrscheinlich das Verfehlteste. Übers Radio zu reden ohne im Radio zu sein, kommt dem Versuch gleich, unter einer starren Maske verschmitzt lächeln zu wollen. Das soll keine Entschuldigung sein für all die Mutmaßungen und skizzenhaften Andeutungen, die Sie im Folgenden erwarten. Aber ich will sie, gleich zu Beginn auf eine seltsame Wirkung von Verkennung, Verlegenheit, Entschuldigung, ja Schuld hinweisen, die mit dem Radio immer zusammenhängt, so etwa, als würde ich hier, während meines Vortrags, um mich zu übertönen, ein Radio nebenher dudeln lassen, was ich in der Tat eigentlich tun sollte, und nur unterlasse, weil Sie auf ein solches eher kümmerliches Fluxus-Experiment jetzt nicht gut vorbereitet wären. "In Kulturen", sagt Marshall McLuhan, "die stark durch die Schrift beeinflußt waren, erweckte das Radio ein tiefes, nicht gut lokalisierbares Gefühl der Schuld. Ein ganz neu erlebtes Gefühl menschlicher Zusammengehörigkeit ließ Angst, Unsicherheit und Unklarheit aufkommen." [1] Schuld, Angst und Unklarheit. Auch nüchternere Zeitgenossen, wie z.B. Bert Brecht haben ganz ähnlich formuliert: "Ich hatte", heißt es in seinem Radiotheorietext, "was das Radio betrifft, sofort den schrecklichen Eindruck, es sei eine unausdenkbar alte Einrichtung, die seinerzeit durch die Sintflut in Vergessenheit geraten war." [2] Philologisch besehen ist dieser Satz ein Paradebeispiel für die Wirkung kriegstechnischer Medienspuren. Der erste Weltkrieg als Sintflut, die vergessen gemacht hat, woher dieses Medium kommt. Nämlich aus dem ersten Weltkrieg. [3] Johannes R. Becher:
"Setz dich nieder. Vor dir steht ein Trichter. Nur ein Knopf. Wenn du ohn Zaudern drehst, spricht zu dir aus ferner Stadt ein Dichter, Worte, wie du sie sonst nie verstehst.
Dreh den Knopf! Wer wird sich melden?
Drehe wieder, und die Stimme schwindet,
Und du hörst des Mannes Stimme nah,
Ja, im Winter sind die Nächte lang,
Dreh den Knopf! Wer wird sich morgen melden?! Franz Werfel: "Darin besteht der unendlich sittigende Wert des Rundfunks, daß er die stumpfe Menschheits-Mehrheit aus ihrem nur-körperlichen Interessenskreis zu differenzierteren seelenhafteren Empfindungsformen emporführen kann." [5]
Was Karl Kraus auf den lakonischen Zweizeiler bringt: Die Abgründe des neuen Mediums, seine unheimliche Herkunft aus dem Nichts, seine ortungslose Allgegenwart und Universalität drängen bei den Literaten der 20er Jahre nach erdbebenhaften Metaphern, nach endzeitlichen Bildern und immer auch nach nationalistischem Stolz.
Noch einmal Karl Kraus: Das Radio bringt in dieser frühen Zeit, wie heute das Fernsehen, die Welt ins Haus; bringt kolonialistische Ersatzbefriedigung ins Haus, das Polarmeer so gut, wie die Beduinen aus der Wüste, die Neger von Harlem und die Armen von den Südseeinseln. Und erinnert bei all dem immer noch an sich selbst, wie an ein nicht aufgelöstes Drängen, das von unklaren Mächten angeschoben wird. |
FUSSNOTE: [1] Marshall McLuhan:1964 328 f. [2] BertholdBrecht:1925 ff 11 [3] Kommt die Schuld und ihre untergründige Wirkung ins Radio, weil Radio, wie wir es kennen, Unterhaltungsrundfunk, überall, in Österreich wie in Amerika, in England wie in Deutschland, nichts anderes als ein cleveres Recycling von liegengelassenem Kriegsgerät war? Ein "frivolous use of a national service", wie englische Militärs anfänglich sagten (zit. bei: Egert:1974:I, 23); ein frivoler Gebrauch einer nationalen Einrichtung, an welcher eben, wie Johannes R. Becher fortan reimen wird, noch der Ruf der toten Helden haftet?
[4] zit. nach: Schneider:1984, 58 ff. Aus dem Radio sprechen zu uns die Toten. So war es am Radio 1925 wohl zu raunen und mehr noch zu reimen, überspannt gewiß, aber, wie sich heute zeigt, mit einer eher vordergründigen Wahrheit. Wilhelm Hoffmann, ein Heidegger-Promovent und Radioregisseur der frühen Hörstücke Elisabeth Langgässers, bringt es Ende der 20er Jahre auf die lakonische Formel: "Ein primäres funkisches Thema ist der Tod". (Hoffmann:1932, 37) [5] zit. nach: Viktor Egert, 50 Jahre Rundfunk in Österreich, Bd 1, Wien1974, S.12 [6] ebd. [7] Schneider:1984, 37 |
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