KUNSTRADIO


"Jenseits von Netzhaut und Trommelfell"


Ausschnitte aus Vorträgen


Referenten des Symposions waren:
    Nicolas Collins, Ron Kuivila, Frieder Butzmann, Thomas Kapielski, Gordon Monahan, Rolf Langebartels, Horst Rickels, Hans-Peter Kuhn, Paul Panhuysen


  • Nicolas Collins nahm in seinem Referat in Linz Bezug auf John Cages Werk "Imaginary Landscape":
    "'Imaginary Landscape Number 1' das 1939 entstand, war eines der ersten Stücke elektronischer Musik, insbesondere der elektronischen Live-Musik. Das Interessante daran ist, daß zu seiner Instrumentierung zwei Schallplattenspieler gehören, die Testgeräusche abspielen. Niemand hatte bis dahin daran gedacht, den Plattenspieler selbst als Musikinstrument zu betrachten. Es war so, als ob man eine Lampe oder einen Staubsauger als Instrument verwendet hätte. Cage schwebte zudem vor, daß das Stück nicht in einem Konzertsaal aufgeführt werden sollte, sondern entweder als Schallplatte oder als Live-Radiosendung. Es dauerte 30 Jahre bis die revolutionären Ideen die dem Stück "Imaginary Landscape" zugrunde lagen, in die Musik wirklich Eingang fanden. Denn die elektronische Musik war nach 1939 v.a. mit Tonbandkompositionen, mit der Studiotechnik und eher traditionellen Kompositionsideen beschäftigt. In Amerika zumindest gab es zu Ende der 60er Anfang der 70er Jahre unter dem Titel "experimentelle oder elektronische Musik" eine Entwicklung, die durch Namen wie Lucie, Bermann, Reich, Oliveros usw. gekennzeichnet war. Ein Grund, warum es so lange dauerte bis Cages Ideen auf fruchtbaren Boden fielen, lag darin, daß erst um diese Zeit die technische Entwicklung soweit war, leicht transportierbare und auch billig Geräte herzustellen, die bei Live-Aufführungen und Performances verwendet werden konnten. Um diese Zeit entwickelte sich auch eine bestimmte Ästhetik: der Minimalismus. Eine Ästhetik die ihre Wurzeln in Cage und zugleich auch etwas sehr Anticagehaftes hatte. Besonders insofern, als sie Cages Vorstellungen der Unbestimmtheit und des Zufalls vollkommen zurückwies.

    Zu Ende der 70er Jahre war eine radikale Veränderung eingetreten. Die elektronische Musik wurde nicht mehr mit Avantgarde gleichgesetzt, sondern mit Popmusik. Die elektronische Musik hatte also ihre Charakteristik als neue Musik verloren. Das hat sicher mit der zunehmenden Universalität der Technologie zu tun. Zugleich aber gab es auch eine Veränderung in der Ästhetik, der noch größere Bedeutung zukam. Jahrelang hatten sich die Komponisten auf das Material, auf Methoden und auf die Technologie konzentriert. Der eigentliche Inhalt blieb im Hintergrund. Irgendwann in den späten 70er Jahren änderte sich das Bild. Plötzlich trat der Inhalt, das eigentlich musikalische Material, in den Vordergrund. Zur Zeit haben wir ein Post-Post-Cage-Stadium erreicht. Es gibt eine Reihe von Komponisten die dieses Stadium erreicht haben, indem sie alle Implikationen der Auseinandersetzung mit dem Inhalt ihrer Arbeiten in diese einfließen lassen. Grodon Monahans Stück 'Speaker Swinging', das er in Linz gezeigt hat, hat ein geradezu klassisches Thema der neuen Musik: den Dopplereffekt. Doch Gordon Monahans Stück besitzt einen unglaublichen Reichtum an Assoziationen. Vor 10 Jahren wäre diese Arbeit viel einfacher und direkter ausgefallen. Es wäre um eine akustische Analyse gegangen, um eine Maschine, die einen Lautsprecher im Kreis rotieren läßt. Das Stück von heute ruft Bilder von Sirenen hervor, von Katastrophen, von Feurewehrwagen die vorbeisausen - das Stück geht weit über das Akustische hinaus - zu allen anderen Bedeutungsebenen die uns wichtig sind."


  • Ron Kuivila zitierte in seinem Referat Rainer Maria Rilke und zwar dessen Text "Urgeräusch". Rilkes Text, meinte Kuivila, hat für eine ganz bestimmte Richtung in der Musik und zwar für den Bereich, der beim Linzer Symposium als Audio-Art umschrieben wurde, eine große Relevanz.

    Als einen Schritt in Richtung auf die Verwebung der Sinne hin, von der Rilke spricht, betrachtete Ron Kuivila seine Skulptur "World Trade Center". Den Entwurf für diese Soundskulptur erläuterte Kuivila anläßlich des Symposiums Audio-Art:
    "Um das Projekt zu verstehen, müßen sie wissen, daß in diesen Bürowolkenkratzern die Wände sehr, sehr dünn sind. Um eine akustische Trennung der Räume herbeizuführen, sind die Klimaanlagen so konstruiert, daß sie einen sogenannten pink noise von sich geben, ein rosa Rauschen. Dieses rosa Rauschen hebt die Geräusch-Schwelle so weit an, daß man kleinere Geräusche aus dem Nebenzimmer praktisch nicht mehr hört. Der Sound ist hier also keine sehr gute Sache bzw. eben doch eine gute Sache, da man ihn braucht, um überhaupt funktionsfähige Büroräume zu haben. Zugleich aber dient er dazu, einen taub zu machen."
    Kuivila beabsichtigte an einem bestimmten Tag von 11:00 bis 11:10 Uhr vormittags alle Klimaanlagen ausschalten zu lassen. Die Grundidee war, daß durch das Abschalten die ganze Soundwelt, die normalerweise versteckt ist, aufgedeckt wird und die Fragilität der Soundstruktur der Büros zu Tage tritt. "Es handelt sich um eine Soundskulptur, da in ihr die Dichte des Materials verändert wird. Es geht um Sound, es geht aber auch um Masse und physische Materie."


  • Unbewegte und bewegte Bilder und ihre Beziehung zur Musik bildeten einen Themenschwerpunkt in einem Perfromance-Referat von Frieder Butzmann und Thomas Kapielski. Auf der Suche nach dem musikalischen Äquivalent der Fotografie kamen sie zu durchaus hintersinnigen Fragestellungen:
    "Wo finden wir volle Löcher in der Musik? Nehmen wir zum Beispiel die Nahtstelle zwischen Konzertende, zwischen Finale, und Applaus und zwar anhand einer Aufforderung zum Tanz von Karl Maria von Weber. Das Stück ist ein Unikum in der Musikgeschichte, weil es erst 11 Takte nach dem großen Des-Dur-Tusch in Wirklichkeit endet. Und das Publikum klatscht seit nunmehr 7 Generationen, seit genau 169 Jahren, in das Stück hinein. Es hat nicht eine Aufführung dieses Stückes gegeben, wo das Publikum nicht in den Ausklang dieses scheinbaren Finales hineingejubelt hat. Meine These: Wir haben es mit einer Fotostelle in der Musik schlecht hin zu tun."

    Die Erörterung der Beziehung von bewegten Bildern und Musik führte über Demonstrationen mit Hilfe von Video und Plattenspieler zu folgendem Resümee:
    "Im Ungefähren also liegt die Spannung zwischen Bild und Ton.Im Synchronen liegt die Langeweile, denn das Synchrone ist die absolute, sichere, stete, unspontane Befriedigung der Erwartung, daß die Sinne und damit die Welt eine Einheit sind. Der Glaube an die Einheit. Das Asynchrone, die Fremdheit zwischen Bild und Ton, fordert auf zur Fahrt ins Ungefähre. Das Ungefährer, ist die Lücke die übrigleibt, wenn Bild und Ton einander nicht begegenen und nur Kraft der subjektiven Anschauung vom Seher und Hörer geschlossen wird. Das Ungefährer also ist der kurze Moment zwischen zwei Wahrnehmungskanälen, die sich im Asynchronen nie begegenen. Es ist sozusagen nur das flüchtige Produkt der Assoziation. Und so ist das Ungefähre der wahre Strom der Bilder, in dem sich Ereignis an Ereignis reiht und nicht bloß Bild an Bild. Das Bild ist außerhalb, das Ereignis ist in uns. Es sind nicht die einzelnen Bilder und Töne, sondern der Augenblick der Wahrnehmung, der physischen Reaktion, die uns ein Erleben verschaffen. Diese Momente sind vielfältig und komplex und verweisen auf das, was jenseits von Netzhaut und Trommelfell sich zeitlicher Rasterung entzieht. Denn diese Momente haben kein zeitliches, sich im Raum oder Zeitraum entwickelndes Wesen, sondern die Assoziation erscheint ohne eine Dauer, denn sie ist bloß die pure Kraft der Sinne, die Sinne miteinander zu vermitteln."




1988 CALENDAR 2