KUNSTRADIO


"Jenseits von Netzhaut und Trommelfell"


Ausschnitte aus "Urgeräusch" von Rainer Maria Rilke:



"Zur Zeit als ich die Schule besuchte, mochte der Phonograph erst kürzlich erfunden worden sein. Er stand jendenfalls im Mittelpunkt des öffentlichen Erstaunens. Und so mag es sich erklären, daß unser Physiklehrer, ein zu allerhand emsigen Basteleien geneigter Mann, uns anleitete einen derartigen Apparat aus den gerade handgreiflichsten Zubehöre geschickt zusammen zu stellen. Mit diesem wenigen war die eine Seite der geheimnisvollen Maschine hergestellt. Annehmer und Weitergeber standen in voller Bereitschaft und es handelte sich nur noch um die Verfertigung einer aufnehmenden Walze, die mittels einer kleinen Kurbel drehbar, dicht an den einzeichnenden Stift herangeschoben werden konnte. Ich erinnere mich nicht woraus wir sie herstellten. Es fand sich eben irgendein Zylinder denn wir so gut oder so schlecht uns das gelingen mochte, mit einer dünnen Schicht Kerzenwachs überzogen, welches kaum erkaltet und erstarrt war, als wir schon mit der Ungeduld, die über dem dringenden Geklebe und Gemache in uns zugenommen hatte, einer den anderen fortdrängend, die Probe auf unsere Unternehmung anstellten. Man wird sich ohne weiters vorstellen können, wie das geschah. Sprach oder sang jemand in den Schalltrichter hinein, so übertrug der in dem Pergamente steckende Stift die Tonwellen auf die empfängliche Oberfläche der langsam an ihm vorbeigedrehten Rolle. Und ließ man gleich darauf den eifrigen Zeiger seinen eigenen, inzwischen durch einen Firnis befestigten, Weg wieder verfolgen, so zitterte, schwankte aus der papierernen Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück. Die Wirkung war jedesmal die vollkommenste.

Unsere Klasse gehörte nicht eben zu den ruhigsten und es möchten nicht viele Augenblicke gewesen sein, da sie gemeinsam einen ähnlichen Grad von Stille zu erreichen fähig war. Das Phänomen blieb ja auch überraschend, ja recht eigentlich erschütternd, von einem Male zum anderen. Man stand gewissermaßen einer neuen, noch unendlich zarten Stelle der Wirklichkeit gegenüber, aus der uns Kinder ein bei weitem Überlegenes, doch unsäglich anfängerhaft und gleichsam hilfesuchend, ansprach. Damals und durch die Jahre hin meinte ich, es sollte mir gerade dieser selbständige, von uns abgezogene und draußen aufbewahrte Klang unvergeßlich bleiben. Daß es anders kam, ist die Ursache dieser Aufzeichnung. Nicht er, nicht der Ton aus dem Trichter, überwog wie sich zeigen sollte in meiner Erinnerung, sondern jene der Walze eingerizten Zeichen waren mir um vieles eigentümlicher geblieben. 14 oder 15 Jahre mochten seit jener Schulzeit hingegangen sein, als mir dies eines Tages zum Bewußtsein kam. Es war in meiner ersten Pariser Zeit.

Ich besuchte damals mit ziemlichem Eifer die Anatomievorlesungen an der Ecole de Boa. Meine Betrachtung sammelte sich immer wieder zur Untersuchung des Schädels, indem sozusagen das Äußerste, wozu dieses kalkige Element sich noch anspannen konnte, mir geleistet schien. Die Bezauberung die dieses besondere, gegen einen durchaus weltischen Raum abgeschlossene Gehäus auf mich ausübte, ging schließlich so weit, daß ich mir einen Schädel anschaffte, um nun auch so manche Nachtstunde mit ihm zuzubringen und, wie es mir immer mit den Dingen geht, nicht allein die Augenlicke absichtlicher Beschäftigung haben mir diesen zweideutigen Gegenstand merkwürdiger angeeignet. Meine Vertrautheit mit ihm verdanke ich ohne Zweifel zu einem gewissen Teile dem streifenden Blick, mit dem wir die gewohnte Umgebung, wenn sie nur einige Beziehung zu uns hat, unwillkürlich prüfen und auffassen. Ein solcher Blick war es, den ich plötzlich in seinem Verlaufe an mich hielt und genau und aufmerksam einstellte. In dem oft so eigentümlich wachen und auffordernden Lichte der Kerze, war mir soeben die Kronennaht ganz auffallend sichtbar geworden und schon wußte ich auch, woran sie mich erinnerte. An eine jener unvergessenen Spuren wie sie einmal durch die Spitze einer Borste in eine kleine Wachsrolle eingeritzt worden war. Und nun weiß ich nicht, ist es eine rhythmische Eigenheit meiner Einbildung, daß mir seither, oft in weiten Abständen von Jahren, immer wieder der Antrieb aufsteigt, aus dieser damals unvermittelt wahrgenommenen Ähnlichkeit, den Absprung zu nehmen, zu einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen.

Ich gestehe sofort, daß ich die Lust dazu, sooft sie sich meldete, nie anders als mit dem strengsten Mißtrauen behandelt habe. Was wird mir nun immer wieder innerlich vorgeschlagen? Es ist dieses: Die Kronennaht des Schädels, was nun zunächst zu untersuchen wäre, hat, nehmen wir es an, eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundnen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden, rotierenden Zylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich bestehendes - gut sprechen wir es nur aus, eben zum Beispiel die Kronennaht wäre. Was würde geschehen? Ein Ton müßte entstehen, eine Tonfolge, eine Musik, Gefühle. Welche? Ungläubligkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht. Ja welches nur von allen hier möglichen Gefühlen verhindert mich, einen Namen vorzuschlagen für das Urgeräusch, welches da zur Welt kommen sollte? In einer gewissen Zeit, da ich mich mit arabischen Gedichten zu beschäftigen begann, an deren Entstehung die fünf Sinne einen gleichzeitigeren und gleichmäßigeren Anteil zu haben scheinen, fiel es mir zuerst auf, wie ungleich und einzel der jetzige europäische Dichter sich dieser Zuträger bedient, von denen fast nur der eine, das Gesicht, mit Welt überladen, ihn beständig überwältigt. Wie gering ist dagegen schon der Beitrag den das unaufmerksame Gehör ihm zuflößt. Gar nicht zu reden von der Teilnahmslosigkeit der übrigen Sinne. Und doch kann das vollendete Gedicht nur unter der Bedingung entstehen, daß die mit fünf Hebeln gleichzeitig angegriffene Welt unter einem bestimmten Aspekt auf jener übernatürlichen Ebene erscheine, die eben die des Gedichtes ist. Eine Frau, der solches in einem Gespräche vorgetragen wurde, rief aus, diese wunderbare und zugleich einsetzende Befähigung und Leistung aller Sinne sei doch nichts anderes als Geistesgegenwart und Gnade der Liebe. Aber eben deshalb ist der Liebende in so großartiger Gefahr, weil er auf das Zusammenwirken seiner Sinne angewiesen ist, von denen er doch weiß, daß sie nur in jener einzigen, gewagten Mitte sich treffen, in der sie alle Breite aufgebend zusammenlaufen und in der kein Bestand ist. Beruht die Gefahr des Liebenden in der Unausgedehntheit seines Standpunkts, so ist es jene des Dichters, der Abgründe gewahr zu werden, die die eine Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden. In der Tat sie sind weit und saugend genug, um den größeren Teil der Welt, und wer weiß wieviel Welten, an uns vorbei hinwegzureißen. Die Frage entsteht hier, ob die Arbeit des Forschers die Ausdehnung dieser Sektoren, in der von uns angenommenen Ebene wesentlich zu erweitern vermag. Ob nicht die Erwerbung des Mikroskops, des Fernrohrs und so vieler, die Sinne nach oben oder unten verschiebender Vorrichtungen, in eine andere Schichtung zu liegen kommen, da doch der meiste so gewonnene Zuwachs sinnlich nicht druchdrungen, also nicht eigentlich erlebt werden kann. Es möchte nicht voreilig sein, zu vermuten, daß der Künstler der diese, wenn man es so nennen darf, fünffingrige Hand seiner Sinne zu immer regerem und geistigerem Griffe entwickelt , am entscheidensten an einer Erweiterung der einzelnen Sinngebiete arbeitet. Nur daß seine beweisende Leistung, da sie ohne das Wunder zuletzt nicht möglich ist, ihm nicht erlaubt, den persönlichen Gebietsgewinn in die aufgeschlagene, allgemeine Karte einzutragen.
Solio, am Tage Maria Himmelfahrt 1919."



1988 CALENDAR 2