From the ZEITGLEICH catalogue


SPASM

von ARTHUR & MARILOUISE KROKER

SPASM: CYBER-OHREN

Spasm rast durch die Schlünde aller androiden Prozessoren.

Im Zeitalter der virtuellen Realität erlebt die traditionelle Vorherrschaft des Sehens über das Hören eine gewaltige Umkehrung: Das Bilder-Simulakrum verlangsamt sich und bremst als technologischer Hemmschuh das Tempo der virtuellen Realität. Da er für seine bloße Existenz eine erweiterte Speicherstruktur benötigt, beginnt der digitale Bildspeicher die brutale Geschwindigkeit der Virtualität durch seine eigenen Imperative zu ersetzen. Sein Schicksal erfüllt sich schließlich in einem Hochleistungswiderstand, der sämtliche Verteilernetze der digitalen Wirklichkeit verlangsamt. In der virtuellen Realität bewegen sich Bilder stets auf einen Zustand der Trägheit hin.

Nicht so in der Welt der Klänge. Digitaler Klang benötigt wenig Speicherplatz und kann deshalb als sich erweiternde Hüllkurve der virtuellen Realität seine Möglichkeiten entfalten. In der Welt des Klangs werden all jene experimentellen Durchbrüche erzielt, die uns die kulturelle Logik der technologischen Gesellschaft, die sich vor uns auftut, begreiflich machen: Looping, Partitioning, Layering, Panning, Aliasing, Filtering, Mutating. Hören wir also auf die Klänge der virtuellen Realität, um die Schnelligkeiten und Langsamkeiten, die Durchbrüche und Zusammenbrüche der Welt der digitalen Technologie zu entdecken. Das Bedürfnis nach einem verbesserten Klang-Kranium wird schließlich befriedigt durch eine Sampling-Technologie, die Komponisten augenblicklich in androide Prozessoren verwandelt und die MIDI-Computer ihre Schweigegelübde brechen läßt, so daß sie uns persönlich mitteilen, was Musikmaschinen schon immer dachten aber noch nie sagen konnten. Bisher blieb der Klang meist im Hintergrund. Bei digitaler Musik ist das anders: sie stellt den Klang in den Vordergrund, indem sie das Energiefeld der Geräusche problematisiert, das Ohr neu verzaubert und komplexe Klangobjekte nach außen in imaginäre Formen, Inhalte und Strömungsbilder projiziert.

Das Ohr schöpft endlich alle seine Möglichkeiten aus. Aber nicht das gute alte Ohr, das an einem lebenden Kopf sitzt. Dieses Ohr ist bereits verschwunden und niemand trauert ihm nach. Wir leben heute im evolutionären Zeitalter der verbesserten Trommelfelle, der Cyber-Ohren für spastische Klänge. Für den wahren digitalen Musikgenuß bräuchten wir aber dringend algorithmische Ohren: Ohren mit Trommelfellen, die Klänge hören können, die es noch gar nicht gibt und die niemals von der menschlichen Stimme reproduziert werden können. Was wir also brauchen, ist nicht die Wiedereinsetzung des Ohrs als privilegierte Körperöffnung und damit die nostalgische Wiederkehr der oralen Kultur, sondern das Wachstum neuer - digitaler - Ohren als Zeichen der Nostalgie der Zukunft. Wir brauchen das biotechnische Ohr, das auf der Ebene des Subhumanen funktioniert, das Ohr, das sich über die Medienlandschaft ausbreitet und in der digitalen Welt des virtuellen Klanges schwebt.

Die Samplertechnologie ist zweifellos der Antriebsmechanismus der spätkapitalistischen Kultur. Auf dem parasitären Prinzip der Aneignung gründend, gelingt es ihr, die akquisitorischen Neigungen der technologischen Gesellschaft, die im Zeichen der privaten Wirtschaftsgüter steht, perfekt nachzuahmen. Sie funktioniert auf der Ebene des digitalen Klangs, nicht des Bildes, und hüllt uns in eine dichte Klanglandschaft, die den Kodierungen und Neukodierungen der Körpertelematik Stimme verleiht. In ihr sind alle verborgenen Strategien, die die technologische Gesellschaft zum Abtasten und Zerlegen menschlicher Wesen, ihrer Erinnerungen, Wünsche, Phantasien und Bedürfnisse einsetzt, in bestechender Detailtreue enthalten. Wenn wir Sampler-Musik hören (und welche Musik ist heute nicht digitalisiert?), hören wir im Grunde unserem künftigen Schicksal zu, während unsere Geschichte, unsere Träume, unsere Bestimmung abgetastet und zerlegt werden. Computerbefehle zur digitalen Manipulation von Klängen sind folglich nichts anderes als exakte ideologische Kodes zur Verarbeitung unseres subjektiven Ich in der virtuellen Realität. Looping (Schleifenbildung)? - Die stete Einschreibung der semiotischen Spuren der Persönlichkeit, der Gesichts-Umgestaltung, der Körperformung, der Manipulierung des Gedächtnisses. Filtern? - Die Verlagerung der vormals ästhetischen Strategie des Trompe-l'Oeil von der Malerei in die Medienlandschaft, der Punkt, an dem jede Aktion nur mehr im Spiegel ihres Bezugs auf ihren kulturellen Kode verständlich gemacht werden kann. Und Panning (Panoramisierung)? - Eine von der Medielandschaft ersonnene Kriegsstrategie, die das Gehirn einem multidirektionalen Tracking unterzieht, einer Spurverfolgung seiner Vorlieben und Abneigungen, seiner Momente der Ekstase und des Ekels. Als Chiffriermaschine für die Ideologie der kapitalistischen Hochkultur entschlüsselt die Samplertechnologie die demiurgischen Regeln der Medienlandschaft und bietet gleichzeitig eine Möglichkeit zum Verstoß gegen eine Kultur, die sich die Simulation zur Natur gemacht hat. Digitaler Klang also als hochentwickelter Kundschafter der Massenideologie: eine achtsekündige Wellenform mit einundneunzig Minuten Samplerspeicher. Da ihr die reale Präsenz fehlt, existiert die digitale Masse nur als optisch erfaßte Wellenfunktion. Diese flüchtige Wellenform, die unendliche Manipulationsmöglichkeiten bietet, kann auf die gleiche Weise geformt und beeinflußt werden, wie androide Prozessoren (die Komponisten von Computermusik) die besten Spitzen auf der XY-Achse ausfindig machen. Ebenso wie die virtuellen Klangobjekte in der Sampler-Musiktechnologie ist die Subjektivität heute ein gasförmiges Element, das sich ausdehnt und zusammenzieht, zeitgedehnt, überblendet, klangbeschleunigt.

Ästhetische Strategien zur digitalen Manipulation im Zeitalter der androiden Prozessoren und der rekombinanten Kultur.

Warum nicht auch Musik in Trümmern? Trümmer-Musik. Ein zynischer Klang, so intensiv, so sehr spektrale Ware, daß er wie ein sterbender roter Stern mit der geballten dunklen Intensität eines Kräftefelds aus reiner Trägheit und reiner Geschwindigkeit implodiert und die treibenden Cyber-Körper durchdringt. Trümmer-Musik? Das bedeutet Musik als universelles Kräftefeld des Klangs, die deshalb so verführerisch sein kann, weil sie in ihrer faszinierenden Logik das stete Versprechen einer bevorstehenden Umkehrbarkeit birgt: reine Ekstase/reine Katastrophe. Musik also ohne Vergangenheit, ohne (determinative) Bedeutung, aber perfekt definierend, perfekt energetisierend, perfekt postmodern.

Music Rules (Die Vorherrschaft der Musik) Wie die Werbung, die Mode und das Kino vor ihr, herrscht die Musik heute als dominierendes Ideogramm der Macht. Nicht als Spiegel einer ernsthaften materialistischen Macht, die von anderswo ausgeht und ihr vorangeht, sondern als zentrales Versuchslabor im Zeitalter der Opfermacht. Wir leben heute im triumphalen aber ausweglosen Zeitalter der ästhetisisierten Kommerzialisierung, im Simulationszeitalter der Designer-Subjektivitäten, in der die Ware vor allem deshalb ästhetisiert werden muß, um ihren endlosen Umlauf im Trümmerfeld der verführerischen Objekte der Konsumkultur zu sichern. Hier ist die Musik ein leeres Kräftefeld, das die zuckenden Subjekte passieren und das einem Objektgefüge, das ständig in Richtung Entropie und Burnout zusammenzubrechen droht, momentanen Halt gibt.

Musik ist nicht mehr nur Simulation, sondern der Schlüsselkode des postmodernen Körpers als Kriegsmaschine. Die Musik als Kräftefeld für verarbeitete Subjekte, mit ihrer Privilegisierung der reinen Geschwindigkeit und des Klangs, der beinahe Lichtgeschwindigkeit erreicht; mit ihrer Vektorisierung beliebiger Subjekte über eine Tastatur der geäußerten Emotionen; mit ihrer Beschriftung des organlosen Körpers mit den Kodes der Raserei und der Begierde; und mit ihrem fatalen Versprechen der reinen Trägheit, wenn der Klang verstummt, und all die tanzenden Körper in sich zusammenfallen. So sprechen postmoderne Körper miteinander, kolludieren, konspirieren, verführen einander. Hier werden die internen Rhythmen und grammatischen Codes der Kriegsmaschine in auditive Kodes umgewandelt, die nur mit den Ohren gesehen und mit den Augen gehört werden können.

Eine interessante Frage stellt sich: Welcher Zusammenhang besteht zwischen den inerten grammatischen Kodes der post-modernen Gesellschaft als Kriegsmaschine und den akustischen Klängen der Musik? Die Trümmer-Musik ist nicht so sehr eine Darstellungen abîme bestimmter Stadien einer Kultur als vielmehr der realen Welt der politischen Ökonomie. Die Trümmer-Musik existiert als Kulturzerstörerin, als kulturelle Teilchenbeschleunigerin im Zeitalter der Trümmer-Wirtschaft. Nicht die Kultur ist ein Spiegelbild der politischen Ökonomie, sondern die heutige Gesellschaft ist eine Reflexion der radikalen Veränderungen in der Musiktheorie und -praxis. Die Musik herrscht im Quantenzeitalter, weil sich der Schall schneller fortpflanzt als das Licht und damit die Geschichte in den Schatten stellt. Das Studium der Musiktheorie also als Labor für die großen Ver-änderungen in Politik und Wirtschaft, die alle ihre Punkphase durchmachen werden, ihre Samplerzeit, ihre Hausmusik-Ära, ihre Heavy-Metal-Ökonomie, ihre Rap-Ästhetik im Dienste des kommerzialisierten Körpers.

Auf dreifache Weise dient die Musik als Labor der Opfermacht:

1. Durch ihren kulturellen Kode: indem die Musik das tote, inerte soziale Kräftefeld unter Spannung setzt und die Geschichte des sozialen Körpers durch die Sehnsucht nach einer romantischen Beschwörung der Klangkultur ersetzt.

2. Durch ihre Methodik: Wenn die Energie eingeschaltet wird, aktiviert die Musik als Kräftefeld das soziale Trümmerfeld; wird die Energieversorgung abgestellt, kommt es schließlich zur von der postmodernen Kultur versprochenen Katastrophe, und der Klang verhallt in der Auflösung der Zeit

. 3. Durch ihre Präsenz als zynisches Zeichen: die Repräsentationsphase der Musik als bloßes nostalgisches Zeichen dessen, was vor langer Zeit aufgehört hat zu existieren: das Zeitalter der Macht mit einem realen Referenten, das Zeitalter des Kapitals unter dem Motto des Gebrauchswerts. Und wenn die realen, greifbaren Körper der Musiker in der scheinbaren Ordnung der Drummachines und Sampler verschwinden, dann deshalb, weil wir heute im Zeitalter des Mißbrauchswerts leben, in dem Musik nur interessant ist, wenn sie rein zynisch ist - ein leeres Zeichen dessen, was sie nie war.

SPASM:
SZENEN AUS DEM REKOMBINANTEN KÖRPER

DIE SCHWEBENDE ZUNGE

Welches Schicksal hat die Zunge in der virtuellen Realität? Nicht die alte, empfindungsfähige Zunge, die in der Mundhöhle gefangen ist, sondern eine verbesserte, digitale Zunge. Eine nomadische Zunge, die plötzlich die dunkle Höhle der oralen Absonderungen verläßt und ans Tageslicht tritt. Zum Beispiel die digitale Zunge in Spasm, dem neuen Computerprogramm für NEXT, die von ihrem evolutionsbedingten Standort im Körper nach außen verlagert und vom Mund abgetrennt wird. Die Zunge rollt sich anfangs vielleicht - unter den dazugehörigen Nasallauten - im Mund ein, wandert aber schließlich aus ihrer Höhle aus, bereist den Brustkasten, verabschiedet sich von den Zehen und schlägt sogar libidinöse Wurzeln im sprechenden Penis. Nicht im surrealistischen Penis, wo die Objekte ihren ursprünglichen Zeichenreferenten verlieren und in einer endlosen Zeichenlawine dahintreiben, sondern in einem Zungenreferenten, dem sein Klangobjekt abhanden gekommen ist. Spasm ist also ins Fleisch geschriebener Surrealismus.

Mit einem Unterschied: Die digitale Zunge ist endlich lebendig geworden und erlernt Klänge von ihren verschiedenen Körperreferenten. Sie klatscht mit einem gurgelnden Schrei auf die Brust; sie verschwistert sich mit dem hyperrealen Penis zu den mutierten Klängen von Sex ohne Absonderungen; sie wird zum Zehenklang, zum Knieklang, zum analen Klang. Sie ist keine Zunge mehr, die zwischen Atmung, Lippen und Kiefer vermittelt, sondern eine digitale Zunge in einem Universum aus schwebenden Lippen, schnatternden Augen, schreienden Haaren, geschwätzigen Genitalien, winselnden Füßen.

Die digitale Zunge sampelt den Körper ab. Der Logik der räumlichen Assoziation folgend, wechselt sie den Klang je nach ihrer Position an der Körperoberfläche. Der Text des Körpers wird von der nomadischen Zunge geleckt und verzehrt: ein Arm, eine Vene, ein Darm, eine Hüfte. Kein örtlich begrenzter Klang mehr, sondern die Sprachrhythmen einer gewaltigen Dissoziation; kein kontextualisierter Laut, sondern eine schwebende Zunge, die je nach ihrem geographischen Standort im Simulakrum des Körpers immer wieder neu konfiguriert werden kann. Die digitale Zunge für nomadische Klänge im Zeitalter des schwebenden Körpers.

Oder vielleicht ist alles ganz anders. Vielleicht hat Spasm gar nichts mit der digitalen Zunge zu tun, sondern mit der rekombinanten Zunge. Mit einer algorithmischen Zunge, die als Gen-Splicer lebendig wird - halb Gen, halb Kode. Mit einer Zunge, die uns zeigt, an welchem Punkt die neukonfigurierte Zunge mit dem kalten Fleisch des rekombinanten Körpers verschmilzt und zu sprechen beginnt. Vielleicht hat Spasm eine höhere anthropologische Bedeutung - als evolutionärer Durchbruch in Gestalt eines Computerprogramms, das die Klänge des digitalen Körpers zu materialisieren beginnt. In Spasm hören wir die ersten zögernden Klänge unser selbst als Androiden. All das führt weniger zu einer Vision der Zukunft als vielmehr zur nostalgischen Vision einer bereits erlebten telematischen Geschichte.

Spasm ist die Nostalgie der Verzerrung.

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TONI DENISE

Ich habe einen rekombinanten Bruder, Toni Denise, der die Transvestitenbars von Tallahassee, Florida, abklappert. Sie hat ihr Gedächtnis genommen und es einen Moment beiseite gelegt.

Sie ist nicht nur ein Typ, der unter dem Messer eines Chirurgen in den Körper einer Frau eingedrungen ist, sondern der erste aller virtuellen Körper, fleischgewordenes Disney World: eine Doppelbewegung, mit der die sexuelle Identität immer wieder neu erschaffen und die (geschlechtsgebundene) Vergangenheit abgestreift wird.

Toni Denise. Die perfekte transsexuelle Frau. Perfekter, als eine Frau sein sollte oder sein kann: schlanke Taille, große Brüste, schulterlanges rabenschwarzes Haar, Beine so lang wie die von Barbie.

Toni Denise. Zu perfekt für eine echte Frau? Eine Frau wie aus dem Bilderbuch? Die Frau, die alle Frauen gerne sein möchten? Toni Denise ist eine Frau, die von einem Mann gemacht wurde. Eine Frau, die aus einem Mann gemacht wurde. Ein Mann mit schlanker Taille, langen Beinen und rabenschwarzem Haar. Ein Mann, der nein sagen kann zu Zellulitis und ja zu Silikonbrüsten.
Toni Denise? Eine virtuelle Frau oder virtuell eine Frau?

Toni Denise kann die geschlechtsspezifischen Vorzeichen umkehren und Doppelgeschlecht spielen. Als sie äußerlich zur Frau geworden war, konnte sie endlich die Verführung der männlichen Psyche in Angriff nehmen und als männlicher Geist den weiblichen Körper kolonisieren. Oder wie Toni Denise das gerne ausdrückt: "Wenn ich eine Klitoris hätte, würde sie mir jetzt stehen."

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DAS TRANSISTORISIERTE GESICHT:

GIB MIR DEINEN KODE

Seit Jahren injizieren Ärzte Silikon in die Gesichter von Frauen. Ein Arzt aus New York City hat das Verfahren jetzt revolutioniert: er entnimmt Silikon aus minderwertigen Transistorflüssigkeiten und injiziert es Frauen direkt in die Haut, um Gesichtsfalten zum Verschwinden zu bringen. Das ist das neue digitalisierte, transistorisierte Gesicht für ein neues Gedächtnis-Schaltbild: keine Falten mehr, keine Tränen mehr, keine Geschichte mehr.

Aber das Gesicht hat eine Geschichte und Erinnerungen daran. Das transistorisierte Gesicht in New York rebelliert. Es wehrt sich gegen das Silikon, das verzweifelt versucht, seine Existenz zu rechtfertigen, indem es sich verschiebt, ausläuft, näßt, bis das transistorisierte Gesicht zum virtuellen Gesicht wird, das über der Zeit schwebt, über den Falten: ein Gesicht auch im Zeichen eines verhängnisvollen Schicksals, das stets zwischen digitaler Ekstase und irdischem Verfall schwanken wird. Als Schauplatz eines größeren mythologischen Dramas ist das transistorisierte Gesicht zur ewigen Wiederkehr im Sinne der Prophezeiung Nietzsches verdammt: die Physik der Schwerelosigkeit und der reinen Energie der faltenfreien Verführung im Kampf mit dem irdischen Sog der Transistorflüssigkeit, die unter der fatalen Wirkung der Schwerkraft in die unteren Regionen sinkt.

SPASM:

EXKREMENTELLES TV

Wir leben heute im Zeitalter des exkrementellen TV. Kein Fernsehen mehr im althergebrachten soziologischen Zeichen der Akkumulation, mit seiner schlüssigen Einteilung der TV-Ästhetik in Strategie (offizielle Kultur) und Taktik (Kultur der Geächteten), sondern Fernsehen, das bereits unter der Batailleschen (exkrementellen) Logik der Disakkumulation, der Selbstaufgabe und der Selbstauslöschung steht. Das Fernsehen als Abfallbewirtschaftungssystem, als konturenloses Vorratslager für tote Bilder und tote Klänge, die uns mit ihrer Trägheit zu ersticken drohen, und im Interesse derer die Medienland-schaft heute als riesige ästhetische Maschinerie zur Aufbereitung der Bildschirm-Abwässer und zum Recycling der vom exkrementellen Fernsehen produzierten Abfallprodukte, vor allem der televisuellen Subjekte, funktioniert.

Die Entsorgung der Fernsehbilder im exkrementellen Fernsehen erfolgt über vier anale Abwasserkanäle: Opfer, Disziplin, Überwachung und Katastrophe.

Opfer-TV: Fernsehen, das genau so funktioniert, wie es Nietzsche in "Zur Genealogie der Moral" vorhersagte. Im Zeitalter der Virtualisierung des Fleisches fungiert das Fernsehen als televisuelle Zentralstelle für die öffentliche Entladung von Ressentiments. Manchmal opfert sich dabei der Zuseher selbst als Sündenbock, indem er sich dem Spott anderer ausliefert (America's Funniest Videos) und sich der Medienlandschaft zum Konsum anbietet, ein Vorgang, der durch den Einsatz von Camcordern zu Zwecken der Selbstverleugnung und -erniedrigung noch wahnwitziger wird. Manchmal werden schwache Minderheiten geopfert und zu Schuldigen gemacht (Afro-Amerikaner, die Armen, die Schwulen), und der Bildschirm löst sich in ein Opfertableau auf, mit namentlicher Nennung des Geopferten des Tages und Diktieren der Bedingungen für das Opfer. Fernsehsendungen wie "48 Hours" von CBS oder "Cops" mit ihrer Häufung von Szenen, in denen Afro-Amerikaner gejagt und wegen Verstößen gegen das Drogengesetz verhaftet werden, dienen folglich der massiven psychologischen Entladung sämtlicher Ängste und Befürchtungen der weißen Suburbia, die Nacht für Nacht die Traumata und Phantasien des TV-Sicherheitsstaates durchlebt. Im Opfer-TV gewährleistet der televisuelle Sündenbock-Mechanismus den moralischen Zusammenhalt der herrschenden Mehrheit in der liberalen Kultur, mit rein zufälliger Auswahl der Geopferten, ihrer sofortigen Dämonisierung und ihrer vom Fernsehen ausgestrahlten Bestrafung. Fernsehen nicht mehr als Diskurs zwischen Eliten und der schweigenden Mehrheit, sondern als zutiefst libidinöse Maschinerie, in der sich asketische Priester (die Fernsehmoderatoren) und die Mehrheits-bevölkerung passiver Nihilisten in einer Szenerie von Gewalt und Opfer vereinigen.

Disziplinarisches TV: Im Zeitalter des liberalen Faschismus mit seiner Globalisierung der Sprache des technischen Diktats dient das Fernsehen als Medium zur Stärkung des Disziplinarstaats, indem der Staat seine Macht nach außen in das Bewußtsein seiner televisuellen Untertanen projiziert. Hier handelt es sich nicht so sehr um Fernsehen im Sinne der von Paul Virilio so eloquent formulierten Theorie der disziplinären Kodes, also um das Fernsehen als Kriegsmaschine mit seiner dreifachen Logik aus Strategie, Taktik und Logistik, sondern um disziplinarisches TV im Zeitalter der exkrementellen Kultur, in der sich alles in Nichts auflöst: ein Negativland der fraktalen Subjekte, rekombinanten Körper und Gedächtnisspleiße, in dem die ästhetische Maschinerie vor allem dazu eingesetzt wird, die öffentliche Zustimmung zur dynamischen Sprache des technischen Diktats zu sichern. Und nicht nur die Zustimmung zur Vision der Befreiungstechnologie, sondern mittlerweile auch zu einer verbesserten Vision des Fernsehens als Heilmittel mit lebensspendenden Kräften: TV als universelle und homogene Therapie, die nach dem folgenden medizinischen Muster verläuft: Abtasten des televisuellen Körpers auf Virusinfektionen (die Frühnachrichten mit ihren Katastrophentheoremen und ihrer krisenbeschwörenden Sprache), Sozialtherapie für die entfremdeten televisuellen Subjekte (die Talk-shows am Nachmittag, z.B. mit Oprah Winfrey oder Donahue), und das Chloroformieren des rekombinanten Körpers vor dessen Entlassung in den Schlafzustand (die nächtlichen Talkshows, z.B. mit Jay Leno oder David Letterman). Eine disziplinarische Maschinerie also, innerhalb derer die Technologie im Namen des Lebens, nicht des Todes, spricht; die dem Modell der Sozialtherapie, nicht des Blutes, folgt; und deren Schlüsselideologie die Verführung ist, nicht der Zwang.

Überwachungs-TV: Die Welt des Camcorders, in der Marx' Priester endlich in das televisuelle Subjekt eindringt wie ein Krebsgeschwür und jeder seine eigene Überwachungskamera wird. Manchmal die Überwachung des "Anderen", wenn der Camcorder die früher unsichtbaren Machenschaften der Mächtigen beleuchtet - zum Beispiel die Verprügelung von Rodney King, bei der die ganze Welt Zeuge war, mit ihrer zweifachen Botschaft der (expliziten) Brutalität der Polizei und der (impliziten) wiederholten televisuellen Warnung an die Afro-Amerikaner, sich vor Begegnungen mit dem Sicherheitsstaat zu hüten. Und manchmal die Überwachung der früher undokumentierten Regionen des eigenen "Selbst", wenn der Camcorder auf das Katastrophengebiet der exkrementellen Familie scharfstellt: Johnnys erster Geburtstag, Johnnys erste Masturbation, Johnnys erstes Mal auf dem Töpfchen. Der Camcorder als televisuelles Lieblingsmedium der exkrementellen Kultur, eingesetzt nicht so sehr als Mittel zur Dokumentation (aber auch dazu), sondern vielmehr als virale Waffe im ödipalen Kampf, in dem die unglückselige Union von Mama-Papa-Ich zur Überwachungszone mit vorprogrammierter Bestrafung wird: Mami dringt mit dem Camcorder in die Privatsphäre ihrer Kinder ein, und Papi sammelt die televisuellen Bilder, um sie später der Lächerlichkeit preiszugeben.

Im Überwachungsfernsehen tritt die optische Macht der Kamera aus dem statischen, zentralisierten Bereich des Fernsehstudios heraus und wird zu etwas Fließendem, Vielgestalten und ungeheur Populären. Der Camcorder als jüngstes Mitglied der televisuellen Familie. Jede Mami eine Archivarin der Familiengeschichte in bewegten Bildern. Jeder Papi ein potentieller Filmregisseur, der das Drehbuch der Familiengeschichte immer wieder neu bearbeitet und umschreibt, mit sprunghaften Schnitten, Montagen und Godardschen Schwenks. Und jedes kleine Ich ein nicht gewerkschaftlich organisierter Schauspieler in dieser Wahrnehmungslogistik, in die die exkrementelle Familie glücklich entschwunden ist.

Panikfamilien also, in denen der Wille zur visuellen Aufzeichnung des Familienlebens in direkter Relation zum Zusammenbruch der Familienbeziehungen steht. Wenn sich die Familie in der Bildüberblendung auflöst, verflüssigt sich der Bildschirm und dringt schließlich in den Körper ein. Das Leben wird zur ewigen Gameshow, zum optischen Trompe-l'Oeil, zur perfekten filmischen Entwirklichung mit 1000 Stunden Kindheitserinnerungen auf dem Camcorder, eine endlose Anhäfung von toten Bildern, die sich niemals jemand ansehen wird, weil sie im Grunde von der Auslöschung des Erfahrenen handeln, von der Ausrottung des Gedächtnisses.

Und die Zukunft der Kinder dieser Camcorder-Generation, dieser televisuellen Generation, von der man sagen könnte: "Das ist also Leben? Wirklich?". Vielleicht wird es für sie einen neuen technologischen Fortschritt im Zeitalter des digitalen Fernsehens geben. Vielleicht die Markteinführung des Video-Interceptors, einer Technologie zur digitalen Neuordnung des gesamten Schutts an Familienerinnerungen. Damit kann man Papi als Baby auf dem Fussboden spielen lassen, Mami kann geklont werden, Geschwister können beliebig beigemischt werden, und das gesamte Bildmaterial im Familienalbum kann digital aufbereitet werden. Wenn schließlich alle Kinder wie die Aliens in in BladeRunner sind, mit ihrer nutzlosen Ansammlung virtueller Erinnerungen, dann kann jedes Kinde nach Belieben das Spiel der inszenierten Kommunikation spielen: bis zum endgültigen Verschwinden, jenem kinematographischen Moment, an dem der Camcorder ein Mittel zur Philosophie wird, zur visuellen Neucodierung sätlicher nostalgischer Erinnerungen der ödipalen Familie. Und warum auch nicht? Die Generation der "Cam-Kinder" wurde ihrer Erinnerungen beraubt, indem man sie gewaltsam im Familiendrehbuch eingesperrt hat. Sie hat durch die Inszenierung ihrer Eltern die falschen Erinnerungen enthalten. Das waren niemals ihre eigenen Erinnerungen, sondern die falschen Vorstellungen, sprich: Bilder ihrer Eltern. Eine Art televisuelles Gefängnis also für das virtuelle Kind, in dem sogar die Fähigkeit, als reifer Mensch &uum;ber das vergangene Familienleben nachzudenken, im voraus festgeschrieben ist. Fü,r die zukünftige Camcorder-Generation steht bereits heute fest, welche Richtung ihre politische Rebellion nehmen wird: Entdecke den inneren Camcorder, den Camcorder, der verdr&aum;ngt wurde, als die Subjektivität im aufgerissenen Auge der ödipalen Familie schwand. Bekämpfe das Überwachuns-TV durch Vagheit: durch die Verschwendung des Video-Interceptors im Zeitalter des digitalen TVs, um das banale Filmmaterial der alten Camcorder-Familie zu durchkreuzen und die Erinnerungen an das Familienleben mit dem Sequenzer so lange neu zu ordnen, bis die gewüntschte digitale Familie zum Vorschein kommt.

Katastrophen-TV: die Trägheitstendenzen im verschwindenden Mittelpunkt des exkrementellen Fernsehens werden überwunden durch das Prinzip der energetischen Aufladung durch Gewalt. Die populärsten Underground-Videos an amerikanischen Universitäten sind heute Todesvideos: echte Todesszenen, von strafweisen Hinrichtungen bis zu Leichen, die aus Autowracks gezogen werden. Das gleiche gilt fürs Fernsehen, wo die neuesten Zuschauerhits von Amerikas grössten Katastrophen handeln (Eye Witness Video), und auch für die Network-Nachrichten, in denen der Bildschirm immer wieder durch flüchtige Szenen aus der Splatter-Kultur energetisiert wird: Opfer von Hungersnöten, Leichenteile von Flugzeugabstü,rzen, menschlicher Abfall von gewaltigen Katastrophen. Im Katastrophen-TV kann die Metapher des Bildschirms aus der Metonymie des Katastrophenereignisses ihre Energie beziehen, weil die herrschende Rhetorik und Katastrophe, in der raschen Umkehrung, die die sinkende Aufmerksamkeit des televisuellen Subjekts wachhält. Wie eine Sternenexplosion in den dunkelsten Regionen des Weltalls überstrahlt das Katastrophen-TV die dunkle Masse der Bevölkerung mit seiner exposiven Gewalt, ebenso wie es mit der Primitivität seiner Bilder fasziniert. Im Katastrophen-TV verlassen wir abrupt die modernistische Kultur und betreten das unbekannte Terrain des postmodernen Primitivismus, jenes Neulands, in dem alle postmodernen Technologien zur Virtualisierung des Fleisches mit den primitivsten menschlichen Emotionen verschmelzen: die Faszination des rauchenden Wracks nach einem Autounfall, die schauernde Lähmung angesichts der Katastrophe, ein letzter Scherz, bevor das Flugzeug in einer Todesspirale aufschlägt. In der Welt des postmodernen Primitivismus fasziniert nicht die Kohärenz oder die kumulative Logik des stabilisierenden Bildes, sondern dias reissende Geräusch, das entsteht, wenn die Wände der virtuellen Realit&asuml;t unter dem ungeheuren Druck der uns umgebenden Ereignisse implodieren und wir plötzlich in einem katastrophalen freien Fall durch den Raum gerissen werden. Die Splatter-Kultur ist das letztliche Schicksal und der verhängnisvolle Traum, der das virale Wachstum der Katastrophen-TV fördert.




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