ISABELLA BORDONI / ROBERTO PACI DALÓ LINGUA MADRE Ein Vortrag über: Oper & Digitaltechnologie, Sprachen & Übersetzung, Stimme & Text, und die Gefahren des Radios Für Demetrio Stratos
LINGUA MADRE: PRÄLUDIUM I Ich habe lange und gründlich über einen Beitrag zu diesem Symposium nachgedacht, stieß aber immer wieder auf das gleiche Problem: Ich wollte einen Beitrag liefern, der zum Thema paßt, ohne Unschärfen und logische Sprünge. Dann beschloß ich, anders an die Sache heranzugehen. Das Ergebnis sind Gedanken, die ständig vom Thema abweichen und viele logische Sprünge aufweisen. Mein Problem ist nach wie vor, daß ich für eine theoretische Annäherung an ein Thema meine eigene Welt verlassen und ein Territorium beschreiten muß, das jenseits meiner eigenen Identität liegt. Ich dachte: Tag für Tag verwende ich etwas Altes und etwas Modernes. Ich verwende die Schrift mit ihren rudimentären, aber elementaren und unersetzlichen Werkzeugen Papier und Feder. Ich verwende meinen eigenen Körper. Ich verwende meine eigene Stimme und den Raum, der sie umgibt. Ich benutze den physischen Raum als Theater, Konzertsaal oder Aufnahmestudio, und ich verwende Maschinen. Durch die Maschinen wird der körperliche Raum zum körperlosen Raum. On the air. Die alten Kulturvölker nannten ihn Äther, jenen höheren, reinen und leuchtenden Teil des Universums außerhalb der Erdatmosphäre. Das Wort Primo Cielo (mit dem ein bestimmter Raum definiert werden soll) erinnert uns auch an eine Besonderheit der Zeit. "Sie nannten den Ort excelso etere, und sie gaben ihm diesen Namen, weil er stetig fließt."1 Aber warum kann ich Gedanken über Technologie, über eine Philosophie der Technologie, nur mit Mühe ausdrücken, warum sind mir solche Gedanken nur vorübergehend zugänglich? Anfangs hatte ich keine Antworten auf diese Fragen. Ich fand mich also mit dem Problem ab, und nach und nach kamen die Wörter zurück. Appearance Ether Feminine Und die Fähigkeit, diese Wörter mit ihren Gegenteilen zu verbinden. Ich kann nur deshalb über dieses Thema sprechen, weil ich dabei meine persönlichen Erfahrungen in ihrer gan-zen Eigenart einbringen kann. Der Gedanke, daß Schein und Wahrheit einander nicht nur in ihrer Dualität, sondern auch als offene Welten beeinflussen, beschäftigt mich seit 1989. Damals entstand "Temporale", ein Theaterstück über die Zeit mit dem Untertitel "Schein und Rückkehr" Das Stück handelt von einem "Ego" auf der Suche nach einer Welt, die über den bloßen Schein hinaus ihr wahres Wesen enthüllt. Wo aber liegt die Grenze zwischen Parvenza - also Schein - und Wirklichkeit? Vielleicht können wir Dinge klarer erkennen und Ereignisse besser verstehen, wenn wir am gleichen Ort leben? Maybe living in a common place makes us recognise things, understand events? "Parvenza" bedeutet aber nicht nur Schein mit seiner moralischen Implikation von Täuschung, sondern auch "Er-scheinen" in der greifbaren, realen Welt. Viele andere Gedanken haben mich in den vergangenen Jahren beschäftigt, als Individuum und als Teil einer denkenden Gemeinschaft; viele neue Ideen sind in der Welt der Kunst, der Wissenschaft und Philosophie aufgetaucht und wurden, mit mehr oder weniger gutem Ergebnis, übernommen. Ich selbst erlebe - erst seit kurzem - die Mutterschaft. Noch mehr als früher - und dafür bin ich dankbar - fühle ich mich jetzt in direktem Kontakt mit einer weiblichen Genea-logie, die ich praktisch und symbolisch (als Symbol, nicht als Metapher) erfahre - Erfahre... erfahre... - und die der alten und neuen Landkarte von Raum und Zeit ein ganz anderes Aussehen gibt. Ich halte es für typisch weiblich, mehr oder weniger glücklich und zufrieden in der Paradoxie der Gedanken zu leben, sich um die Details zu kümmern und sich der Alchemie der Veränderung zu öffnen, wenn die Zeit für Veränderungen gekommen ist. Ich glaube, es geht um folgende Schlüsselfrage: Wie kann man diese zwei Wege des absolut Alten und des absolut Neuen zusammenführen? Zwei Wege, die zwei Geschlechter kreuzen, das weibliche und das männliche, die sich stets in unterschiedlichen Spannungs-feldern befinden, eines das Bewahrende, das andere das Ausfüh-rende, das eine in einer Welt lebend, in der es oft sich selbst überlassen bleibt, das andere im öffentlichen Leben stehend. Ich glaube, es geht um folgende Schlüsselfrage: Wie kann man diese zwei Wege des absolut Alten und des absolut Neuen zusammenführen? Zwei Wege, die zwei Geschlechter kreuzen, das weibliche und das männliche, die sich stets in unterschiedlichen Spannungs-feldern befinden, eines das Bewahrende, das andere das Ausfüh-rende, das eine in einer Welt lebend, in der es oft sich selbst überlassen bleibt, das andere im öffentlichen Leben stehend. Jeder Gedanke leitet sich daraus ab. Jeder Gedanke, der sich daraus ergibt, trägt die Erinnerung an einen Umbruch in seinem väterlichen Erbgut. An die Zeit, wie sie die Wissenschaft kennt. Ordnung, Simultaneität, Bestand. An die Zeit als weibliche Geschichte der Erschaffung, des Geheimnisses und der immerwährenden Fortsetzung des Ursprungs. Weil wir mit der Zeit (buchstäblich) die Welt begreifen, und mit der Zeit (buchstäblich) sprechen lernen. "Sprache ist mein menschliches Bestreben. Mein Schicksal will, daß ich suche und mit leeren Händen zurückkehre. Aber ich komme mit dem 'Unsagbaren' zurück. Das Unsagbare kann mir nur durch das Versagen meiner Sprache zuteil werden."2 Das Unsagbare ist im tiefsten Herzen des Wortes bewahrt. Agamben zitiert in Idea della prosa einen Satz von Paul Celan: "Nur in unserer Muttersprache können wir die Wahrheit sagen. In einer fremden Sprache lügt der Poet." Ich möchte hier auf zwei Dinge eingehen: Erstens auf die Beziehung zwischen Sprache und Mutterschaft. Eine Bedeutung des Begriffs Muttersprache ist mit einem Gedanken schwanger gehen, eine Idee gebären - ein Gedanke befruchtet uns, dann kommt die Zeit des Wartens, dann wird das Wort geboren. Dann die Lüge. Manchmal bleiben wir an einem Ort stehen, der weniger ein Ort der Lüge ist als vielmehr ein Ort der Voreingenommenheit und des Verlusts. Sprachen, verschiedene Sprachen, sind nicht deckungsgleich. Der Zweck des Übersetzens besteht nicht darin, eine Kopie zu erstellen. Kopien zu erstellen würde bedeuten, an die Existenz eines Originals und an dessen Wahrheit zu glauben. In einer Sprache ein Fremder zu bleiben heißt, Verlust und Irrtum fortzusetzen. Aber warum und wann ist die Sprache eine Mutter? Die italienische Philosophin und Forscherin Luisa Muraro schreibt in ihrem wunderbaren Buch L'ordine simbolico della madre: "Von unserer Mutter haben wir sprechen gelernt, und von ihr hat die Sprache ihre Fähigkeit, zu sagen, was sie ist." "Wir lernen von unserer Mutter sprechen, der Mutterschoß des Lebens ist auch der Mutterschoß des Wortes." "Ich behaupte, daß es ein und dasselbe ist, Körper zu sein (oder einen Körper zu besitzen) und Sprache zu sein (oder eine Sprache zu besitzen) und daß die Aufgabe der Mutter genau in diesem Ganzen besteht." Das Wort als Schöpfungsakt. "Sprechen zu können bedeutet im Grunde, zu wissen, wie man die Welt in die Welt bringt, und das können wir nur in Beziehung zur Mutter tun, nicht getrennt von ihr."
Kehren wir zurück zu den Anfängen der Moderne und zum Männlichen und Weiblichen. Zuerst brachte das Radio, dann das Fernsehen das Äußere nach Innen, in die Wohnungen, in den Ort der Selbstbesinnung, in das weibliche Territorium. PRÄLUDIUM II
In den 70er Jahren schrieb Stratos: "Das hier aufgezeichnete Material ist als Vorschlag zur Befreiung der Stimme und ihrer möglichst natürlichen Verwendung zu verstehen. Deshalb wurde auf 'technologische Tricks' verzichtet: eine Schnur, ein Rizla Zigarettenpapier und ein Glas Wasser genügen. Wenn eine 'neue Stimmlichkeit' Bestand haben soll, muß sie von allen erfahrbar sein, nicht nur von einer Person: ein Versuch, sich vom Status des Zuhörers und Zusehers zu lösen, an den uns Kultur und Politik gewöhnt haben. Dieses Stück darf nicht als passive Hörerfahrung verstanden werden, sondern als 'un jeu dans lequel on risque sa vie' [ein Spiel, bei dem man sein Leben riskiert]."
Die Zeiten ändern sich. Als Demetrio Stratos diesen Kommen-tar unter sein Stück Metrodora setzte, schien der Zugang zu den neuen Technologien noch schwierig. Heute arbeiten wir mit relativ kostengünstigen Miniaturtechnologien, die problemlos zu transportieren sind und im Sinne der von Max Neuhaus erwähnten "Zugangsdemokratisierung" als simples Mittel zum Zweck dienen.
Und Stratos stellte auch wichtige Fragen zu Tradition
und Modernität und zum politischen/ge-sellschaftlichen
Zugang zu Kunst und Alltag in Italien.
TEATRO DELL'ASCOLTO
AURORAS ist eine Oper, in der der Hauptdarsteller nicht auftreten kann, weil die Rolle des Protagonisten vom Radio besetzt ist, von dem radiophonen Medium in einer Inszenierung, die noch innerhalb der Tradition der Oper liegt, aber mit einer zeit-gemäßen "intermedialen" Struktur ausgestattet wurde. Die Komposition basiert auf der Stimme. Die Oper ist streng auf Sprache begrenzt, auf die Sprache aller Altersstufen, von Kinder-stimmen bis zu den Stimmen alter Menschen. Hebräisch, Arabisch, Italienisch, Deutsch, Englisch, Russisch, Ungarisch, Griechisch, Armenisch, Jiddisch, Persisch: Sprache erzeugt eine spontane Polyphonie. Der Ausgangstext erhält durch die Übersetzung in die verschiedenen Sprachen immer wieder neue Formen und Bedeutungsinhalte. Das ganze musikalische Gefüge der Oper ist auf der "Stimme" der Sprachen aufgebaut. Der französische Philosoph Marc-Alain Ouaknin schreibt in diesem Zusammenhang: "La vérité n'est ainsi ni du côté de l'original ni de celui de la traduction, mais dans un au-delà des deux qui les transforme tous les deux. La traduction, le nouveau texte, n'est pas la reproduction de l'original, il devient autre chose qu'un produit assujetti à la loi de la reproduction. Lorsque Rabbi Nahman affirme que 'la sainteté de l'hébreu dépend de sa traductibilité en araméen', (l'autre langue), il signifie par là que l'oeetre-à-traduire et le acré ne se laissent pas penser l'un sans l'autre ...Ils se produisent l'un l'autre au bord de la même limite. La traduction conduit deux langues l'une vers l'autre dans une promesse de conciliation." 3 AURORAS ist eine Oper, die das Melodram zu seiner Urform zurückführt: zur Märchendimension. AURORAS ist eine Ge-schichte zum Erzählen... Eine jener Geschichten, die alle Fragen beinhalten, die die Menschen bewegen, so daß sie immer wieder kommen. Je persönlicher die Gedanken, desto universeller ihre Dimension: Fragen über Geburt, über die Liebe, über den Tod. [Der Rabbi Nahman aus Breslau beschloß, alle seine Bücher zu verbrennen, nur um wieder Geschichtenerzähler zu werden.]
In AURORAS wecken die SängerInnen die Erinnerung an ihre traditionelle Rolle in der Oper.
In der Geschichte der darstellenden Künste hat sich die Oper immer mit den neuesten Technologien befaßt. Sie bleibt das perfekte Medium für die Entwicklung einer Beziehung zwischen Text, Klang und Raum. Mit einem Wort: sie ist "multimedia". AURORAS ist eine Klangwelt, die aus den unterschiedlichsten stimmlichen und instrumentalen Quellen aufgebaut ist: Rund-funksignale, Stimmen ohne klassische Gesangsausbildung, elektroakustische Ensembles werden live mit elektronischen Mitteln verändert und räumlich gemacht. Sprechende, singende, erzählende Stimmen - modifizierte Stimmen.
In AURORAS offenbart sich der Körper als unvollständige Maschine. Hier ist der Körper sehr nahe am zeitgenössischen Denken und gleichzeitig sehr weit, diametral entgegengesetzt, davon entfernt.
Verschiedene Sprachen ermöglichen verschiedene Arten der Textdarstellung.
In AURORAS we have a continuous anamorphosis made out of the superimposition of soundscapes from the cities of Berlin and Napoli, both places provoking specific acoustical memories. In AURORAS erleben wir eine permanente Anamorphose, die sich aus der Überlagerung der Klanglandschaften von Berlin und Neapel ergibt und in der beide Städte spezifische akustische Erinnerungen wachrufen.
DIE GEFAHREN DES RADIOS
DIESE MASCHINE TÖTET FASCHISTEN Woody Guthries Gitarre hat noch Gültigkeit. Mit neu gezogenen Grenzlinien natürlich, die nicht nur den Faschismus mitein-schließen, sondern jede Art von Regierungskontrolle, die auf die Beschränkung der persönlichen und kollektiven Freiheit abzielt. Wir sehen den Radioempfänger durch Guthries Vermächtnis. Sergio Messinas Radio Gladio ist ein Meisterwerk des leichten Zuhörens, eine überaus politische Dokumentation: Jetzt ist die Zeit, sich zu engagieren. Jetzt ist die Zeit, politisch zu sein. Das Radio kann ein Ort für die anderen Stimmen sein. Die Utopie des Theaters als Gemeinschaft. Das Theater als Ort der Konflikte.
WIE MAN MULTIMEDIAL WIRD
Viele von uns assoziieren Technologie mit Leichtigkeit, Präzision, Geschwindigkeit - alles Titel der American Lessons, die Calvino für die Norton Lectures an der Harvard University schrieb.
Aber die Überflutung mit Informationen kann buchstäblich krank machen. Alles zu wissen, überall, gleichzeitig, ist zum Passwort geworden. Man muß online sein, up-to-date. Und was kommt danach? So wird die "Parteilichkeit" des Radios mit all seinen Grenzen zu seinem interessantesten Merkmal. Am 30. August 1993 wurden in LA LUNGA NOTTE (Die Lange Nacht) die Städte Jerusalem, Köln, Innsbruck und Rimini zu einem Klangraum verbunden. MusikerInnen und SängerInnen waren im Zusammenspiel mit den Live-Stimmen der Dichter Samih al-Qasim, Palästina, und Yehuda Amichai, Israel, über eine Radiobrücke (von Radio Kol Israel) zwischen Italien und Israel zu hören. Yehuda Amichai bezeichnete dieses Ereignis als das erste Kind eines neuen Zeitalters. Natürlich war das Signal nicht ganz rein, aber gerade diese Unreinheit vom technischen Standpunkt aus machte das Stück besonders berührend. Wir konnten die Entfernung "spüren". Wir konnten die Wüste spüren. Bei der Realisierung von Kunstprojekten im elektronischen Raum können wir uns der Schönheit des beständigen Aus-tauschs zwischen alten und neuen Technologien nicht entziehen. Auch im Projekt REALTIME (1993) stimmte die bildliche Darstellung nicht mit der verwendeten Technologie überein. Die altmodischen Kostüme, die sich offensichtlich auf die Anfänge der Fernsehübertragung bezogen, sollten eine Diskordanz zwischen Bild, Klang und Gesamtkonzept herstellen.
1992 wurde in der Performance LA NATURA AMA NASCONDERSI das Museum Moderner Kunst in Wien über eine high-tech audiovisuelle Brücke mit dem Tiroler Landesmuseum in Innsbruck verbunden. Simultan mit einem traditionellen ungarischen Ensemble mit Sängern und Streichern und einem alten Schauspieler in Wien trat in Innsbruck ein Kinderchor mit einem Musiker und einer Schauspielerin auf, die auch die audiovisuelle Übertragung aus Innsbruck steuerte. Parallelprojekte im Rahmen von AURORAS:
- Vorträge. Berlin, Köln, Innsbruck
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