ALVIN CURRAN
MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH


Zusammenfassung::

MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH ist eine Serie von drei Elektronikmusikinstallationen, bei denen Lautsprecher in verschiedenen Konfigurationen unterirdisch angeordnet werden. Die folgenden Werke werden beschrieben: NOTES FROM UNDERGROUND - ein Stück auf Band in Zusammenarbeit mit Melissa Goulds Lichtinstal-lation FLOOR PLAN; THE MAGNETIC GARDEN, ein kollektives musikalisches Landschaftsobjekt, das durch Currans unterirdische Klangkammern und Musiken, die die biologische Zeit emulieren, zusammengefaßt wird; und THE LISTENING WELL, ein interaktiver Hör- und Spielraum um einen Brunnen, der hier ein kontinuierliches Klangportrait der Welt im Playback bietet, aber auch mit vom Publikum "hineingeworfenen" Klängen in Dialog treten kann.

Als ich mit einem Schwarm Zug-vögel über die Erde hinwegflog, hörte ich Dinge, die nichts anderes sein konnten als die reinen Klänge der Entropie, der Atomspaltung, der Unendlichkeit, Ewigkeit, Stille. Schwaden von Zusammenklängen drifteten empor und trugen uns höher. Wenn die Oberfläche der Erde schon so tönt, wie mag wohl ihre Musik tief in ihrem Inneren, an der Quelle klingen?
A.C. (Inner Cities; Notizen 1994)


Zum Background:
MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH ist ein Projekt, das ich 1987 begann - dabei wird eigens komponierte Musik von unterirdisch plazierten Lautsprechern ausgestrahlt. Auf der Grundlage dieser Idee habe ich bis heute drei größere Werke geschaffen - eines davon wurde zur Gänze realisiert, die Umsetzung eines zweiten wird zur Zeit erwogen. Obwohl das Konzept aller drei Installationen ähnlich ist, verleihen der (musikalische) Klanginhalt, die Plazierung der Lautsprecher und die optische Gestaltung jeder ihre eigene Identität. Wie andere meiner ortsspezifischen Werke (MARITIME RITES, WATERWORKS, MONUMENTI, APRES LE DEJEUNER SUR L'HERBE) sondiert auch MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH die Möglichkeiten der Akustik im Freien, in direktem Bezug zur unmittelbaren Umgebung - ob der Standort nun ein Fluß, ein Schloß, ein Hafen, eine Stadt, ein See, die Fassade eines barocken Opernhauses, ein offenes Feld oder ein tiefer Brunnen ist. In diesem Artikel möchte ich die drei Werke beschreiben, die eine direkte Weiterführung meiner "Konzerte in der Natur" sind, sich aber doch durch den Einsatz ganz spezifisch angeordneter Lautsprechersysteme, computergestützter Kompositionstechniken und in einem Fall des Publi-kums selbst als Protagonist der Musik von ihnen abheben.

"Ist es END oder WÄHREND, Thora oder Trugwerk? Cecil Taylor, Cole Porter und Morty Feldman telephonieren in Kon-ferenzschaltung - sie beschließen, einen Golem zu ordern. Fellini fand die Idee phantastisch, sagte, er würde später kommen, aber er wurde nie gesichtet. Gabriella Münter malte inzwischen Kandinsky im Bett, vom Nebenzimmer in München. Die Musik wurde 35 Kilometer südöstlich von Rom komponiert." 1

Ich mache seit 1964 Musik mit natürlichen Geräuschen und nehme laufend die unterschiedlichsten Klänge aus der ganzen Welt auf. Für mein kreatives Schaffen ist diese unverfälschte Klangpoesie zu meiner Muttersprache geworden und hat viele Arbeiten inspiriert. Zuerst - ich kannte die Werke von Russolo, Schaeffer und Cage noch nicht - begann ich, Umweltklänge zu sammeln, weil sie für mich de facto MUSIK waren, Musik überdies, die allen gehörte. Diese natürliche Musik zu suchen und zu sammeln bedeutete für mich auch eine Möglichkeit, den oft luftleeren Bezirken der Neuen Musik Sauerstoff zuzuführen. Von Anfang an boten mir Wasser, Wind, Frösche, Zikaden, Bienen, Liebesspiel, Kinderspiel, Trödel und vor allem das derb-laute Italien eine symphonische Enzyklopädie - so enorm schien das Potential. Nach meinen ersten filmartigen Bandcollagen (WATERCOLOR MUSIC und A DAY IN THE COUNTRY, 1966/67) kamen die bekannten Solostücke (SONGS AND VIEWS OF THE MAGNETIC GARDEN und LIGHT FLOWERS, DARK FLOWERS, 1973/74), wo ich Bandabmischungen sich langsam entfaltender Szenarien mit meiner Stimme, Flügelhorn, Okarina, Maultrommel, Fund-objekten und Synthesizer überlagerte. Mit der Serie MARITIME RITES, die ich 1978 mit 50 Sängern in Ruderbooten auf einem kleinen See in Rom begann2, transferierte ich meine Konzert-musik aus den dunklen Kellern der Avantgarde direkt in die freie Natur. Es folgten mehrere große Konzerte für Schiffs-hörner in größeren europäischen Häfen; darauf eine Serie für das National Public Radio (1984-85) mit allen Nebel-hörnern der amerikanischen Ostküste und Solo-Instrumentalisten3; und schließlich WATERWORKS, wofür in Linz an beiden Donauufern, auf einer Länge von eineinhalb Kilometern, 22 computergesteuerte Schiffshörner installiert wurden (Ars Electronica 1987). Die suggestive Kraft großer offener Räume faszinierte mich immer mehr, und ich benützte das Medium Radio, um etwa 300 Musiker in sechs europäischen Städten gleichzeitig zusammenspielen zu lassen. In einer 53-minütigen symphonischen Beschwörung gedachten sie der Kristallnacht (CRYSTAL PSALMS, 1988). Dieser kurze Überblick bringt mich zu den drei Werken der jüngsten Serie: MUSIC FROM THE CENTER OF THE EARTH.


I   NOTES FROM UNDERGROUND

" ... der Schofar erklang und die Pharaonen blickten erstaunt, als die Brücke (von Brooklyn) aus dem Nirgends im schwingenden Äther erschien ... und Fragmente von Myriaden unterirdischer Chöre konnten das musikalische Geschick, die Armee dysfunktioneller Akkorde nicht aufhalten, die wie die Schafe Panurgs marschierten ... jeder zu seinem Schöpfer, jeder den nachfolgenden die Soden ins Gesicht kickend ..."4

Das erste ist FLOOR PLAN/ NOTES FROM UNDER-GROUND - eine konzeptuelle Licht- und Klanginstallation in Gedenken an den Holocaust, die im Auftrag von Ars Electro-nica 1991 in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Melissa Gould geschaffen wurde. Gould be-nützte den Grundriß einer zerstörten Berliner Synagoge als Grundlage für eine lebens-große (18x25m), begehbare Blaupausenzeichnung5 aus 110 Leuchtstoffröhren, die ein wenig vertieft angeordnet waren und mit ihrem unheimlichen Schein den "verlorenen Raum" wieder erstehen ließen.

Als Ergänzung zu diesem eindrucksvollen visuellen Ansatz Goulds schlug ich vor, um ihre surreale Architektur imaginäre Wände zu errichten - Wände aus purem Klang: dem Klang von Hunderten, Tausenden, schließlich Millionen menschlicher Stimmen, die aus dem Untergrund sangen - massive, aber unsichtbare Klangwände, die sich aus verborgenen, im Boden vergrabenen Lautsprechern erhoben.

To complement this striking visual gesture of Gould's, I proposed the addition of imaginary walls to Gould's surreal architecture - walls of pure sound: the sound of hundreds, thousands, finally millions of human voices singing out from under ground - massive but invisible sonic walls, rising up from hidden loudspeakers virtually buried in the ground.

DIE MUSIK für dieses Werk entstand im Frühjahr 1991 in den Studios des Center for Contemporary Music am Mills College. Mit einem ad hoc zusammengestellten Studentenchor nahm ich eine Reihe musikalischer Grundstrukturen auf: ausgehaltene Zufallsakkorde, dichten melodischen Gesang, lange ausgehaltenen Gleichklang, Glissandi, etc. Zusammen mit einer großen Aus-wahl unbegleiteter Chormusik aus der ganzen Welt, einigen Industriegeräuschen und Tierstimmen ergab das ein 24-spuriges Band mit kontinuierlichen Kopien all dieser Klänge. Aus dieser Masse von Rohmaterial produzierte ich 8 Stereo-Vormischungen und destillierte aus diesen schließlich vier einstündige Endabmischungen heraus - eine für jede Wand der Synagoge. Wenn, wie geplant, alle vier Bänder zusammenspielten, hörte man rund um das entrückte Lichtdesign von Gould eine Million Stimmen erklingen.

DER PHYSISCHE AUFBAU sollte für nur eine Woche in Linz installiert werden; aber so einfach das Konzept war - die Umsetzung erwies sich als problematisch. Wieso sollte überhaupt jemand eine gleichmäßige, 100m lange Klangwand kreieren wollen, die aus einem grasbewachsenen Feld ohne sichtbare Öffnungen ertönte? Nach langen Überlegungen fiel die Entscheidung für die folgende Anordnung: es würde ein Graben von 1x1x1m ausgehoben werden, der im Abstand von 1.5m an die rechteckige Vertiefung des FLOOR PLAN anschloß. In diesen kam eine V-förmige Konstruktion aus 6cm Sperrholzplatten. Auf Paaren von horizontalen Verbindungs-streben mit 1.5m Abstand wurden koaxiale 12-Zoll-Laut-sprecher nach oben gerichtet montiert. Eine Abdeckung aus Sperrholzplatten mit zahlreichen 8-cm-Bohrungen und einem feinen, an die Unterseite gehefteten Kunststoffnetz ruhte auf Querstreben, die etwas höher waren als die Oberkante der V-Konstruktion, so daß ein schmaler Spalt blieb, durch den der Klang entweichen konnte. Die zurückgerollte Grasnarbe wurde dann über den Platten wieder in der ursprünglichen Lage aufgelegt. Kurze PVC-Rohrstücke wurden in unregel-mäßigen Abständen in kleine Löcher im Gras gesteckt, um dem Klang weitere Ausgänge zu bieten. Die in Achtergruppen angeordneten 72 Lautsprecher wurden in Serie und parallel an 9 Stereoverstärker mit je ca. 600 Watt angeschlossen,6 an ein Mischpult mit 4 Ausgängen und schließlich an 4 Auto-Reverse Stereokassettendecks. Nach viel Feinabstimmung funktionierte das System problemlos während der ganzen Zeit des Festivals von Sonnenuntergang bis Mitternacht und schuf nicht nur eine gleichmäßige Klangumrandung, sondern auch eine ungemein stimmige Präsenz in Goulds Lichtfeld.



Fußnoten

1. Aus meinen Anmerkungen zum CD-Begleittext für SCHTYX, CRI Recordings 1994.
2. Ein Konzert des Stimmenimprovisations-Workshops für Studenten an der Accademia Nazionale d'Arte Drammatica, Rom, Juni 1978.
3. In dieser 10-teiligen Serie, die von Melissa Gould produziert wurde, waren die Instrumental- und VokalsolistInnen (eine/r pro Programm): Pauline Oliveros, John Cage, Leo Smith, Jon Gibson, Joe Celli, Malcolm Goldstein, Clark Coolidge, George Lewis, Steve Lacy und ich selbst.
4. Aus meinen Anmerkungen zur CD Beschreibung WHY IS THIS NIGHT DIFFERENT FROM ALL OTHER NIGHTS; ARCANA Recordings, 1994
5. Das Publikum kam durch die "Tür" herein und wanderte ungezwungen herum, wie bei der Besichtigung eines Baudenkmals.
6. Konzipiert von Tom Erbe, Center for Contemporary Music, Mills College, Oakland.

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