ROS BANDT
MIT CHAOS GESTALTEN


Kurzfassung:

Die vielen Kontinuen von Klang als Schwingung koexistieren, ob sie vom Menschen erzeugt oder beeinflußt werden oder nicht. Sie haben ihre eigenen Zyklen, Beziehungen, Zeitspannen, wie die chaotischen Muster in der Natur. Die Position der Menschen im Raum, die kulturellen, geographischen und zeitlichen Gegebenheiten beeinflussen, was sie hören, und ihre Präsenz gestaltet das akustische Hörumfeld und das Gehörte mit. Der Akt des Schaffens erscheint anmaßend und überflüssig angesichts dieses komplexen, sich stets wandelnden Geflechts. Jedes Werk ist eine winzige Gelegenheit, sich kreativ, in Übereinstimmung mit Ort und Zeit, an diesem Chaos zu beteiligen.

Seit 1977 mache ich bewußt offene Kunstwerke, langzeitig angelegte elektronische Environments, Klangskulpturen, Installationen und Spielplätze, wo der/die Wahrnehmende die Kunstform mit Leben erfüllt und die vielen nebeneinander existierenden Klangmöglichkeiten gestaltet. Bestimmte Klangparameter sind zwar vorgegeben, aber ihr Fortbestehen, ihre Dauer, Wiederholung, Position werden durch die Anwesenheit und die Bewegungen der RezipientInnen bestimmt.

Seit 1987 erlaubt es das mehrspurige offene Playbacksystem (SSIIPP), Installationen durch viele Klang-Koinzidenzen driften zu lassen, die nicht alle vom Konzept vorhersehbar sind. Jede Person beeinflußt und hört ihre eigene Version; ihr spezifisches "mobiles Zuhören" definiert das Werk als Erfahrung des Augenblicks. Das Werk ist nicht fixiert. In gewisser Weise gilt das immer für die akustische Wahrnehmung, wodurch die Idee des fixierten Werkes überhaupt ausgeschlossen erscheint. Man erlebt, was man belebt.

Die Implikationen des Gestaltens mit dem Chaos werden im Hinblick auf Klangkomposition, Überlegungen zu Standort und Umwelt, skulpturale Aspekte und ZuhörerInnenoptionen diskutiert. Bestimmte Werke, "Circuits and Cavities", "Acoustic Chambers", "Sound Playground", "Tracing the Sound Icons", "Time Warps", "Mungo", "The White Room" und "Altars of Power and Desire" sind einzigartige Realisierungen von Chaos-Design, die in verschiedenen Lebensräumen mit verschiedenen Menschen geschaffen wurden.

Zeitgleisch installation: SEVEN PILLARS OF MEMORY

MIT CHAOS GESTALTEN:
Das Unprogrammierbare geschehen lassen


In den 80er Jahren wurde in der westlichen wissenschaftlichen Literatur viel über Chaos, "eine neue Wissenschaft", publiziert. Merkmale und Verhalten von Chaos wurden an Fraktalen, dem Schmetterlingseffekt, Periodizität, Pendeluhren, Wolken, Blutgefäßen, Turbulenz, Geodynamik und Schneeflocken untersucht. Die Wissenschaft mußte erkennen, daß man nicht durch einzelne, lineare Erklärungsansätze zu unumstößlichen Wahrheiten gelangen konnte. Die Pluralität von Kontinuen wurde zulässig, aus einer Dimension wurden viele. Unvorhersehbarkeit und Unendlichkeit zeigten ihre eigene Art von Mustern, die vom jeweiligen Kontext in all seiner Komplexität bedingt waren. Systeme enthielten ihre eigenen Unregelmäßigkeiten und chaotische Formen ihre eigene Ordnung, und die Grenzen zwischen ihnen verwischten sich. Zeit und Ort erhielten einen neuen Wert. Die westliche Wissenschaft mußte umdenken, da sich viele uralte Prämissen bestätigten und sie die Muster der Natur besser zu verstehen lernte.

Als weiße westliche Komponistin und Klangkünstlerin, die in der südlichen Hemisphäre lebt, fand ich das amüsant. Chaos war wohl kaum eine neue Wissenschaft, sondern eine alte Weisheit. Ich dachte zurück und erkannte, daß ich, wie viele andere, mein ganzes Leben lang in Forschung, Performance und meiner eigenen kreativen Arbeit auf diesem Gebiet gearbeitet hatte.

In den frühen 70er Jahren konzentrierte sich meine musikwissenschaftliche Forschung auf Zufallsoperationen und Prozesse der Unbestimmtheit in den Werken von John Cage (Diplomarbeit 1973). In den 80er Jahren untersuchte ich für meine Dissertation (1984) Modelle und Verfahren in repetitiver Musik. Für Aufführungen arbeitete ich vor allem mit zwei Gruppen, dem Multimedia-Ensemble "Live Improvised Music Events" (1978 - 85) und "La Romanesca". Ich hatte jahrelange Erfahrung in der Interpretation konzeptueller und mittelalterlicher Musik, wobei ich die Entfaltung festgelegter und nicht fixierter musikalischer Prozesse beobachtete, Fragmente aufzeichnete und in einer zeitabhängigen ephemeren Kunstform rekonstruierte. Konstanten und Variationen standen in unterschiedlichen Beziehungen zueinander, die sich jedesmal änderten. Werke waren durch eine Anzahl bestimmter Charakteristika definiert, die sich aber je nach Performance und Event verschoben. "Soft and Fragile Music in Glass und Clay" ist ein Beispiel dafür. Bei der Komposition, Aufführung und Analyse dieses Werks war klar, daß Freiheit und Kontrolle in wechselnden Beziehungen standen, so wie Ordnung und Unregelmäßigkeit. Werke waren eher wie lebendes Gewebe, wie Chamäleons. Die buddhistische Einstellung zur Zeit als Kontinuum von Augenblicken konstanter Schärfe, die in Cages Werken so deutlich zum Ausdruck kommt, veränderte meine Wahrnehmung und Intention. Dem steten Kommen und Gehen des Jetzt konnte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es war eine winzige Möglichkeit, in fließende Klangzustände einzutauchen. Seit diesen frühen Anfängen zeichnete sich eine Arbeitsweise ab, bei der Risiken, Improvisationen, Zustandsveränderungen, Unbestimmtheit, Echtzeit-Komposition und Zuhörerpartizipation einflossen. Standortspezifische Arbeit entwickelte sich aus meinen Experimenten mit Klanggemälden in Wassertanks und Weizensilos aus Zement (1978 - 80) und in Autosilos (STAR-GAZER, CD, 1984-87). Diese vorgefundenen Stadtskulpturen konnten als Ganzes "gespielt" werden; es erforderte Zeit, Risiko- und Experimentierfreudigkeit, sie zu verstehen und zum Schwingen zu bringen. Die Richtung und Bewegung von Klängen im Raum konnte als sich ändernde Masse konzipiert werden. In einem solchen Raum gab es keine Grenzen mehr zwischen Komposition, Improvisation, Performance, Forschung, Aufnahme. Räumliche Klanggemälde in Aktion waren eine Freude, die ich gerne mit anderen teilen wollte. Hier war etwas möglich, das interessanter war als vorgeplante, eingelernte Kunst. Es war eine holistische Welt, die Zeit und Beobachtung erforderte. Man konnte sich schneidende Klangebenen auslösen und einfügen, die sich frei bewegen durften und deren Zusammentreffen und Auseinanderdriften von der Zeit, vom Ort, den anwesenden Menschen und der akustischen Resonanz bestimmt wurden. Man konnte etwas machen, was im Einklang mit der Zeit und dem Ort, nicht ihnen aufgezwungen war. Dafür war ein von Anfang an offener formaler und zeitlicher Rahmen notwendig, damit das Unprogrammierbare stattfinden konnte.

Es ist nicht überraschend, daß Klanginstallationen, an denen man diesen Ideen am besten nachspüren konnte, musikwissenschaftliche Forschung, Komposition und Aufführung in den Hintergrund drängten. Die Arbeit mit dem Unerwarteten, mit dem Unregelmäßigen ergab Überraschungen, die ihr eigenes Leben hatten. Es brauchten keine theoretischen Positionen vorgegeben, keine Zwänge in Raum und Zeit auferlegt werden. Man konnte die Werke "in their manner of operation" - wie Cage es formulierte - beobachten.

Doch statt mit aristotelischer Methodologie die Anwendung der Chaos-Theorie in meinen Klanginstallationen nachzuweisen, ist es vielleicht besser, eine Auswahl von Installationen von 1977 bis heute vorzunehmen, Spuren zu beobachten und die Werke zu erfahren. Die Werke, die durch ihre Zeiten und Räume driften und sich verändern, stellen ihre eigenen Lösungen dar.

"WINDS AND CIRCUITS AND SURFACES AND CAVITIES", 1977, war eine Doppelinstallation interaktiver elektronischer Kunst. In einer alten Orgelfabrik wurden sieben große Mobiles aus Drahtkleiderbügeln von der Decke gehängt. Jedes wurde durch Polystyrol-Resonatoren, die an den horizontalen Stäben befestigt waren, verstärkt. Die Mobiles wurden mit Drahtfedern und Spiralen kinetisch verbunden, so daß sich alle Bewegungen gegenseitig bedingten. Ein wunderbares Stück wurde durch das Öffnen der Schiebetür produziert: 25 Minuten lang klang und tönte es, bis das vom Wind aktivierte System wieder zur Ruhe kam. Alte Plattenspieler-Tonabnehmer übertrugen den Klang der kollidierenden Drahtharfen auf fünf alte Fernsehgeräte, die auf die ABC Lissajousfigur eingestellt waren, die sich verzerrte. Kinder konnten mit verstärktem Klang und Bildern spielen, indem sie Farbscheiben vor den Fernsehern rotieren ließen, an den Knöpfen der Verstärker drehten oder die Mobiles in Bewegung setzten. Diese Installation war Tag und Nacht zugänglich. Ich wollte die Veränderungen der Formen über eine lange Zeit hinweg sehen. Ich wollte erfahren, wie das im Lauf des Tages wechselnde Muster von Aktivität und Ruhe, Wind, Passanten, akustischem Umfeld den Inhalt und die Perzeption der Installation beeinflussen würde. Der Eintritt war frei. Ich wollte, daß das Werk atmen konnte und Raum hatte, und war bereit, alles, was vom Publikum kam, zu akzeptieren.

Lange Zeitspannen wirken positiv auf das Werk und die Menschen, die es benutzen. Es können Dinge eintreten, die sonst nicht bemerkt oder durchgeführt werden könnten. Der Aspekt des Spielerischen und der öffentlichen Zugänglichkeit wurde mir zu einem Anliegen bei der Präsentation von Installationen. Die Zeit ist aufgehoben. Die Situation des Spiels erlaubt Aktivitäten ohne Druck. Darauf sollten alle ein Recht haben. Das brachte mich dazu, die öffentliche Freiluftinstallation "The Sound Playground" (Brunswick Victoria, 1981) zu kreieren. Diese Klangskulptur bestand ausschließlich aus vorgefundenen Objekten aus der Industrie und von Fabriken in dieser multikulturellen Arbeiterschichtgegend. Sie umfaßte 19 große, mikrotonal in modalen Reihen gestimmte Instrumente mit verschiedenen Klangfarben aus Holz, Metall, PVC-Rohren, Spielskulpturen und Spielzeugtelephonen. Diese Klangskulptur-Installation hatte viele Leben, als ernsthaftes Instrument für Kompositionen, als Wind-Klangspiel, und als Spielplatz für organisierte und unorganisierte Klangspiele. Ich gab 55 kostenlose Workshops, und weitere Klangspielplätze folgten in Bethnal Green, London, und 1983 in Schweden. Der Ort und das Mittun der Öffentlichkeit waren von vordringlicher Bedeutung geworden. Ich war auch gezwungen, mich unmittelbar mit der Bedeutung von Landbesitz in Australien und von Multikulturalismus, den beiden großen bestimmenden Faktoren für die Identität Australiens, auseinanderzusetzen.

Die Wirkung der Landschaft - ob städtisch oder natürlich - ist in Australien überwältigend, sowohl was die räumlichen Entfernungen betrifft, als auch in bezug auf die Dichotomie zwischen der neuen Kultur und dem geologisch alten Land. 40.000 Jahre lang war diese Landschaft dank ihrer Leere und Abgeschiedenheit erhalten geblieben, zusammen mit der indigenen Bevölkerung, die sie pflegte und in völliger Harmonie mit diesem empfindlichen Habitat lebte. In 200 Jahren westlicher Werte wurde sie geschändet. Das Überleben der Aborigines wurzelt in der Chaos-Theorie. Sie sehen die Muster der Winde und Wolken, des Sandes, der Flüsse und Strömungen und bemerken die geringsten Störungen in allen Kontinuen gleichzeitig. Sie haben jahrtausendelange genaue Beobachtung der Sterne in jahreszeitliche Ernährungsvorschriften umgesetzt und durch ausgeklügelte soziogenetische Strukturierungen ihrer Klans über Tausende Jahre Inzucht vermieden. Ihre Kenntnis von Ort und Zeit und die Erfahrung des Augenblicks bestimmen jede ihrer Bewegungen. Als ich 1987 - 92 in ihrem heiligen Gebiet am Lake Mungo an meinem Projekt der Äolsharfen arbeitete, durfte ich sieben Tage mit ihnen in ihrer Welt verbringen, die Winde, den Treibsand, die Spuren des Dingo, des Fuchses und der Känguruhs verstehen, die Konstellationen lesen, einfach atmen, das sich ändernde Licht beobachten. Sie wiederum kamen, um die Klangskulptur zu hören, die ich vor Jahren mit Einheimischen des Mildura-Gebiets errichtet hatte und die verstärkt worden war, um die 50o Hitze auszuhalten. Die Mikrophone schmolzen. Meine DAT-Maschine stürzte ab. Die Aufnahmeleute von CSIRO und ABC verschliefen die schönste äolische Musik, weil sie sich noch an die Zeit der Stadt hielten. Wir schliefen im Sand und vibrierten mit den Saiten. Die Obertonreihe der Harfen wurde exquisit von der Brise gespielt; die so unaufhörlich erklingende Musik war schöner als jede mögliche menschliche Kreation. Es ist der gleiche Klang wie der des Windes in den Casuarinabäumen. Diese Bäume, zart, empfindlich und ortsspezifisch, hatten mich beim Design der Harfen inspiriert. Solche Klänge können nur durch ein ganz bestimmtes Zusammenspiel von Umständen reproduziert werden. Man kann nur so weit planen, daß das Unprogrammierbare stattfinden kann.

"TRACING THE SOUND ICONS" war ein weiteres klangarchäologisches Werk, das in einem späteren Stadium eine Metamorphose durchmachte. 10 KünstlerInnen waren eingeladen, Werke für einen aufgelassenen Kalksteinbruch 16 km außerhalb von Mt.Gambier an der Küste zwischen Victoria und Südaustralien zu schaffen. Der Steinbruch sollte vom Bergbauministerium aufgefüllt werden, und das war ein Versuch, Hunderte Hektar alter Steinbruchruinen zu retten und die lokale Bevölkerung über den drohenden Verlust aufzuklären. Es dauerte einige Zeit, bis ich den Ort lesen konnte, obwohl ich ausgezeichnete Informationen über die Geschichte der Aborigines und des Bergbaus erhalten hatte. Kalk schwingt nicht. Die Klangatmosphäre war wunderbar. Ich wollte nicht mit der Natur konkurrieren. Ich fand fünf nicht mehr benützte Benzinzapfsäulen, die zu "Sound Icons" wurden. Sie erzählten ihre Geschichte in metallischen perkussiven Rhythmen, die ich aufzeichnete, indem ich ihre Gehäuse klingen ließ und in den oberen Teil Tonbandschleifen unterschiedlicher Länge einführte. Das ergab einen verstärkenden Resonanzfilter für die Lautsprecher in den kleinen Tonbandgeräten. Sie schwatzten munter miteinander. Die Erde, die ich aushob, ließ Spuren vergangener Erdbewegungen zu Tage treten - die Notenschrift für die Geschichten. Ich machte Abdrücke davon und von den Zapfsäulengehäusen und gestaltete damit im nächsten Jahr in Perth, Western Australia, "Tracing the Sound Icons".

In Perth war mein Thema das Eingreifen des Menschen in die Natur, im Vergleich zum natürlichen Verlauf der Entropie. Schwerkraft und Zeit sind viel stärker als der Mensch. Langfristig würden die Steine wieder in die Erde zurückkehren. Die Lieder würden im Äther bleiben, ihre Zusammensetzung durch Teilchenattraktoren verändern und kleine Störungen im Verlauf von Zeit und Raum auslösen.

Es war ein spezielles Playbacksystem erforderlich, damit die Lebenskraft der Geschichten ihre eigene Zukunft spielen konnte. 1984 erfand ich das SSIIPP - Sound Sculpture Interactive Installation Performance Playbacksystem. Das war ein 8-spuriges Playbacksystem mit kontinuierlichen Schleifen bestehend aus zwei 4-spurigen Tascam-Kassettendecks mit hoher Bandgeschwindigkeit, die mit Infrarot-Sensoren verbunden waren. Dadurch konnte das vorbereitete Material phasenverschoben laufen, und das Publikum konnte in einer komplexen Klang-Schachanordnung eingreifen. Durch den Einbau kleiner Zusatzplatinen in die Sensoren wollte ich erzielen, daß die Sensoren für unbestimmte Zeitspannen programmiert werden konnten und reaktiviert werden mußten, um ihren Zustand zu ändern. Wenn das System spielte, würde der Sensor unterbrechen, wenn es nicht spielte, würde der Sensor es starten. Der neue Zustand dauerte an, bis der Sensor neu aktiviert wurde. Die Lautsprecher waren immer nahe den Sensoren aufgebaut, so daß die Position der ZuhörerInnen im Raum den Gesamtklang beeinflußte und gleichzeitig ein wechselndes räumliches Hörfeld bestimmte. Der Sozialisierungseffekt, der sich ergibt, wenn mehr Leute in den Raum kommen und ihn verändern, ist für sie und für die Beobachtenden immer faszinierend. Es ist selten möglich, alle Veränderungen zur Gänze zu kodieren. Dadurch bieten sich vielfältige Möglichkeiten bei der Gestaltung der 8-Spur-Komposition für das Playback.

  1. Das gesamte Material muß so arrangiert werden, daß alle möglichen vertikalen Überschneidungen zufriedenstellend sind.
  2. Die Längen der Klänge und Schleifen auf jeder Spur können eigene Welten sein und zusammen mit Momenten der Stille eigenständige Kompositionen darstellen.
  3. Das Verhalten aller dieser Koinzidenzen eines 15-Minuten-Zyklus, der kontinuierlich drei Wochen läuft, kann kaum reproduziert werden, was das Klangergebnis, die Position im Raum und die Dauer anbelangt.

Da die Wahrnehmenden auf ihren eigenen Wegen durch das Hörfeld wandern, ist es fast unmöglich, daß zwei ZuhörerInnen dasselbe erfahren. Die individuelle Hörerfahrung wird verstärkt und bewirkt Veränderung, bedeutet nicht nur passive Informationsaufnahme. Der Mythos festgelegter Werke wird damit überhaupt widerlegt. Die Morphologie der Kontinuität muß als eine große, vielschichtige Einheit visualisiert werden, die schwebende und sich verschiebende Kontinuen umfaßt, deren Zustand sich jederzeit ändern kann. Die Auswirkung der Chaos-Dynamik läßt sich dann anhand des Inhalts und der Playbackstruktur des Werks verstehen. Die einzige Möglichkeit, ein solches System zu erleben, ist mit dem interaktiven Playbacksystem, wo man durch viele Lautsprecher wandert wie durch den Wald, wo man das Recht hat, in seinem eigenen Tempo zu spazieren und die Blumen zu pflücken, die einem gefallen. Diese Freiheit, seinen eigenen Kurs festzulegen, ist allzu selten. Das befreiende Gefühl gibt Kraft und stellt eine Herausforderung dar. Eine eingefrorene Stereodarbietung eines solchen Werks zu hören hat weniger Ähnlichkeit mit dem Original als eine Postkarte. Selbst ein Video kann das Gefühl eines chaotischen Stücks nicht vermitteln. Man muß eintauchen, in der Welt des Ohrs leben, in einem Meer der Klänge und der Möglichkeiten schwimmen. Man erlebt, was man belebt.

TIMEWARPS war ein weiteres Werk mit SSIIPP (University of Adelaide Gallery, Südaustralien, 1991). Es war eine Klangwildnis, eine neualte technologische Landschaft, durch die man wanderte und bewußt oder unbewußt acht verschiedene Zeitkontinuen durchmaß. Sichtbar gemacht wurde das durch sechs Zeitkategorien, die sechs anthropomorphen Gottheiten zugeschrieben wurden, durch den Baum der Zeit und den klingenden Äther, die eine weltferne Situation darstellten. Herbstblätter im Frühling, die Eröffnung am Ende der Ausstellung und die Verwendung falsch laufender Uhren verstärkten das Gefühl des Aus-den-Fugen-Geraten-Seins.

Die acht Zeitkontinuen wurden aus den Definitionen von J.T. Frasers "Time, the Familiar Stranger" (University of Massachusetts Press, 1987) adaptiert.

  1. Unendlichkeit wurde durch äolische Musik ausgedrückt, die nur auf Tonspur, ohne Sensor-Schnittstelle kontinuierlich gespielt wurde.
  2. Die Uhrzeit wurde "Pumpkinman" zugeteilt, der die Zeit mißt und die Klänge von Hunderten Kuckucksuhren kontrolliert, die im Philip Island Clock Museum aufgenommen wurden. Der "Time Tree" (Baum der Zeit) enthielt eine große funktionierende Uhr mit der falschen Zeit und ausrangierten Platinen als Ziffern.
  3. Die biologische Zeit des Körpers und der Reproduktionszyklen ist sehr eindeutig in dem großen Stierhorn-Phallus des "Pumpkinman", in den Brüsten Darlenes, von denen batteriebetriebene LED-Anzeigen blinken, und den Paarungsrufen der Frösche in "Frogman" dargestellt.
  4. Die soziale Zeit steht für die konstruierten und erlernten Muster, die Mode, Verhalten und Sitten bestimmen. Sie verändern sich ständig und sind geschichtlich und geographisch bedingt. Kenner und die Modeindustrie schreiben ihnen nur einen Kurzzeitwert zu. Die hübsche blonde, in Spitzen gekleidete Braut Darlene, die mit einer Männerstimme von einem alten 78er Grammophon "Annie Laurie" singt, attackiert einige dieser Muster.
  5. Die magnetische und kosmische Zeit wird durch die Bewegung des Meeres in der Figur "Angel" dargestellt. Die Kodierung der Zeit durch Planeten, Monde und Sterne, Magnetfelder und Mondfinsternisse ist uralt und allen Kulturen vertraut. Das tägliche Muster von Ebbe und Flut steht für den Lauf der Zeit.
  6. Seismische Kommunikation. Bei "Frogman" ist die Wahl der Sexualpartner ausschließlich durch die Grenzen der Akustik in seinem Habitat bestimmt. Das hängt von der Nähe der Frösche zueinander ab, davon, ob die Frösche verstummen, wenn sie sich eingraben, und von der Kontur der Erde.
  7. Sonnenzeit. Tag und Nacht steuern in der natürlichen Welt so viele Lebensprozesse; sie lassen erst die Sauerstoffbildung zu, die uns das Atmen ermöglicht. "Birdwoman", mit den Rufen des Hahns, der am Rand des Buschwalds kräht, stellt diese Zeit dar.
  8. Un-Zeitlichkeit. Das ist der Zustand, bei dem alle Stränge der Zeitkodierung gleichzeitig wahrgenommen werden können, und ein voll bewußter Verstand klar zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidet. Die Entscheidung "Fascistis", ob er mit Schnee werfen oder eine Bombe explodieren lassen soll, kommt aus dem Kopf.

Jede Skulptur oder jedes Zeitwesen enthält einen Lautsprecher, und der ihm zugeteilte Klang kommt von der gleichen Position wie die menschliche Stimme. Vier von ihnen - "Darlene", "Fascisti", "Pumpkinman" und "Frogman" - haben Sensoren. Sie scheinen direkt mit einem zu plaudern, je nachdem wie man den Sensor auslöst. "Angel" und "Birdwoman" geben kontinuierlich die Klänge des Meeres und der pastoralen Landschaft wieder, die sich auch in der Natur ständig in Zyklen wiederholen. Jedes der zwei Vierersets spult nach dem 15-Minuten Zyklus zurück.

Daraus ergeben sich komplexe Muster. Menschen aktivieren laufend Pausen, Stopps, Starts in über der Hälfte des vorgegebenen Klangmaterials mit den entsprechenden Auswirkungen auf das formale und auditive Gesamtergebnis. Das Sound-Design muß für räumliche Veränderungen durch die Zuhörenden Platz lassen. Die Komplexität der Ergebnisse, die man bei der Bewegung in diesem Raum hört, ist auch eine Metapher für die Komplexität des Verstehens, das erforderlich ist, wenn man Zeit überhaupt erfahren will. Wie vergeblich es ist, die Zeit als lineare Abfolge kodieren oder erleben zu wollen, erfährt man in der Komplexität der sich im Raum kreuzenden Klanglinien. Gerade wenn man glaubt, wesentliche Beziehungen zwischen Sensoren und räumlichem Kontrapunkt verstanden zu haben, kann jemand anderer im Raum diesen Vordergrund oder Hintergrund ganz leicht ändern. Ein Hörmoment hat viele mögliche Lösungen.

Die kontinuierlichen Geräusche des Meeres, der Natur und der Harfen wirken diesen Unterbrechungen entgegen. Fakten, die wir wissen und als vorhersehbar erwarten, z.B. daß das Meer nie ruht, oder daß die Sonne am Morgen aufgeht, werden zu konstanten Sicherheitsankern, gegenüber denen andere Formen der Zeiterfahrung, wie Uhrzeit, Reproduktionszyklen, Moden und Lebensmuster ständig vom Menschen selbst manipuliert werden.

Die SSIIPP Technologie ermöglicht ein komplexes Klang-Schach, ein Spiel, das man im Gegensatz zu Schach selten lernt. Neue Regeln erfordern harte Arbeit und ständigen Einsatz. Das Essentielle des Lebens und die unglaubliche Auswirkung der Zeit auf unsere Möglichkeiten in der Geschichte, Geographie, menschlichen Entwicklung können nie voll und ganz erklärt oder strukturiert werden. Die Technologie selbst ist für die sich ändernden Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft, oder, auf einer anderen Ebene, zwischen KünstlerIn und Publikum konzipiert. Ihre Flexibilität läßt es zu, daß Veränderungen zwischen Menschen, Klängen und Räumen einbezogen werden, anders als bei den meisten anderen Playbacksystemen. Es ist ein Werkzeug, das das faszinierende strukturierte Chaos und die chaotischen Strukturen des Lebens aufzeigt, als etwas, das erfahren, gehört und gefühlt werden kann.

Die Rolle der Technik in der zeitlichen Gestaltung der Welt ist durch den "TIME TREE" (Baum der Zeit) dargestellt: Computerplatinen sind auf Treibholz montiert, als Fundstücke, die auch dem Zerfall preisgegeben sind, und die "GI-JO" Männchen, die zerstückelt auf die Platinen gehängt sind, haben ihr Lebenserhaltungssystem verloren. Sie klammern sich in prekärer Labilität an Federn und Grashalme, abgekoppelt von Batterien.

Die restliche Technik des SSIIPP ist verborgen, die Lautsprecherkabel verlaufen von der Decke in die Köpfe der Vogelscheuchen, so daß man nicht sieht, woher die Zauberei kommt. Von der Methodik her ist der Ansatz "green tech".

In "ALTARS OF POWER AND DESIRE" (Ball State University, Benjamin Cohen Peace Prize, USA, Oktober 1993) waren alle Tonspuren von Sensoren gesteuert. Acht Altäre mit 8 CD-Spuren, die drei Wochen lang unaufhörlich liefen, gaben einen ernüchternd kritischen Kommentar zum Kapitalismus. Vier weitere Klangproben durchschnitten den Raum, wenn PassantInnen an den Altären die Natur, Kredos, Liebe, Essen, das Traumhaus, Reisen, Geld und Sport anbeteten. Diese Fragmente drangen wie Splitter durch den Äther, überlagerten die Dauerklänge, veränderten ständig ihre Konfigurationen, lebten ihre eigene Performance und reagierten auf die Zuhörenden. Ein Großteil der Anordnung war strukturiert, inklusive des gesamten Klangmaterials. Das Sequencing und die vertikalen Überschneidungen wurden von den Vorbeigehenden getriggert, ebenso wie die elektronischen Vögel, Chips mit Bewegungssensoren, die vom Altar der Natur pfiffen. Entscheidend bei der Planung eines solchen chaotischen Werks sind die Überlegungen, welche Features steuernd wirken und welche ganz frei bleiben sollen. Dies war eine Gemeinschaftsarbeit mit 70 Leuten von vier Fakultäten. Sie lieferten nicht nur Input für das Playback, sondern auch für die Konzeption. Klänge aus Muncie wurden zu denen gemischt, die ich aus Australien mitgebracht hatte: WeißkopfSeeadler und Falken an australischen Wasserfällen. Meine Wünsche mußten auch für ihre Platz lassen. Schließlich waren sie hier zu Hause, nicht ich.

Mehrere Tausend Menschen kamen zu der Installation und nahmen ihre Kommentare auf dem portablen Mac auf. Alle erhielten als Geschenk einen aufgezeichneten Kassettenmix des Klangmaterials. Die Ausstellung war also nicht nur gratis, die Besucher bekamen noch etwas dafür.

Je mehr man mit anderen zusammenarbeitet, umso weniger Input hat man. Der Arbeitsprozeß selbst wird zur chaotischen Dynamik, wobei jeder rückt, um für die anderen Platz zu machen.

"THE WHITE ROOM" war eine fünfschichtige Installation von Klangperformance, Skulptur und Licht in Warschau für ISCM 1992. Ich war beauftragt, nach einem von Vineta Lagzdina beschriebenen Traum die Ausstattung für den großen Hörtempel zu bauen, verschiedene Klangelemente zu liefern und das Zusammenspiel der Klangkörper zu gestalten, so daß die anderen KünstlerInnen darin komponieren und spielen konnten. Das verlangte Vertrauen und Verständnis. Wie mißt man das wissenschaftlich?
Die akustischen und psychologischen Auswirkungen des Kontexts dürfen nicht unterschätzt werden, wenn man die Parameter der Chaos-Dynamik festlegt. "The White Room" hatte eine unvergeßliche Aura, aber eine trockene Akustik. Wir mußten erst alles machen.

SEVEN PILLARS OF MEMORY für ZEITGLEICH verwendet ein 8-spuriges interaktives digitales offenes Playbacksystem, um die Stimmen von Menschen, die enge Verbindungen zu dem Salzmagazin in Hall und der Geschichte des Haller Bergwerks haben, ein letztes Mal, als Elegie, erklingen zu lassen. In der Zeitspanne des Bergwerks, das auf das 13. Jh. zurückgeht und erst 1967 eingestellt wurde, liegen sieben Jahrhunderte österreichischen Erbes beschlossen, das nur jene, die eng damit zu tun haben, voll erfassen. Als Zuhörer können wir es nur bruchstückhaft wahrnehmen. Die zahlreichen Arbeitsleben von Hunderten von Jahren haben immer noch Stimmen, die in der Stadt lebendig sind. Die Stimmen des Bergwerksdirektors Max Mair und der 90 Jahre alten Zwillingsschwestern Olga und Hermine Wick, die jetzt das Herrenhaus führen, erzählen ihre Geschichten. Viele der Klänge, die in dieses Umfeld gehören, sind vom Aussterben bedroht oder bereits vergessen. Frühe Sprengsätze mit galvanischen Elementen, die Atmosphäre im Bergwerk oder Knappenlieder sind einige Beispiele dafür. Neue Klangmilieus dringen ein, wie das Auto und Preßlufthämmer. Die Erinnerung verdichtet Chaos-Dynamik und Zeit zu Träumen und Fiktion, die im Geist und im Gedächtnis jener, die eine Beziehung dazu haben, noch lebendig sind. Für die anderen sind sie Fantasien.

Die Gestalterin der SEVEN PILLARS OF MEMORY wird wie ein Phantom nur im Kurzzeitgedächtnis existieren, damit das Unprogrammierbare eintreten kann, sobald die Geschichten und das akustische Umfeld eingerichtet sind. Produziert und installiert wird das Werk durch den lokalen Bezug. Die Chaos-Dynamik und die teilnehmenden Menschen werden SEVEN PILLARS OF MEMORY artikulieren. Jede/r wird ihre/seine individuelle Erfahrung machen. Das Leben der Installation wird die Summe aller Kontinuen sein, zu umfassend, um es voll zu begreifen.

Das ist die wesentliche Komponente, die aus der Chaos-Theorie hervorgeht, daß etwas entsteht, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Schwenk beschreibt diese allgemeingültigen Prinzipien sehr schön in seinem Sensitive Chaos (New York, Schocken 1976, S. 19), das sich in erster Linie mit der Beziehung zwischen Kraft und Form im Wasser befaßt. "Strömung möchte sich realisieren, ungeachtet des Materials der Umgebung. Es sind eigentlich keine einzelnen Stränge, sondern ganze Flächen, die sich räumlich ineinander verweben. Wenn die Strömung vorbei oder nicht sichtbar ist, bleibt doch das Zeugnis davon. Ströme von Luft hinterlassen ihre Spuren auf dem Wüstensand in den Wellen. Das Strömen der Ebbe schreibt ein Netzwerk von Adern in den Strand."

Eine Chaos-Komposition/Installation atmet, sie hat viele gleichzeitige Leben, die Bild- und Klangspuren im Auge und Ohr und der Empfindsamkeit der Wahrnehmenden hinterlassen. Im Gedicht von Wallace Stevens (The Flecked River, The Palm at the End of the Mind, hg. Holly Stevens; New York, Vintage, 1972, S. 321) heißt es: "The knowledge of things lay around, but unperceived." Hoffen wir, daß wir unsere Wahrnehmung schärfen können.

Schlußfolgerung:
Heute, 20 Jahre später, stelle ich fest, daß mein Interesse an Chaos immer noch gleich groß ist. Es ist von Wissenschaftlern, und lange vor ihnen von Künstlern, Buddhisten, den alten Epikuräern und den australischen Aborigines als wesentliches Element der lebenden Materie nachgewiesen worden. Es hat mein/e Glaubenssystem/e geformt und ist seit 1973 in allen meinen kreativen Arbeiten tief verankert. Werke, die das Unprogrammierbare zulassen, überraschen und bezaubern immer. Jeder Ausschnitt hat, als Teil eines flexiblen Ganzen, ihre eigene Faszination und Bedeutung. Das Unvorhersehbare lächelt über die Illusion der Realität. Das einzige, dessen wir sicher sein können, ist das Chaos.

*

Mein Dank geht an: Werner Resch, Geologe, Universität Innsbruck; Max Mair, Direktor des Salzbergwerks; Olga und Hermine Wick, Hüterinnen der Herrenhäuser; Peter Hirschhuber & Freunde, Café Saline - Tirolerlieder; Nicola Mayr, Interviews, Übersetzungen der Bandtranskriptionen; Helga Griffin, Melbourne, Victoria, Dialektidentifizierung & Übersetzungen; Arthur McDevitt, Übersetzungen; Wendy Taylor, Sovereign Hill Ballarat, Victoria, Australien; Aufnahmeerlaubnis für gefährdete Klänge. Meiner Familie für meine "Beurlaubung"..


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