Wolfgang Hagen: "ÜBER DAS RADIO (HINAUS)"

[7] "Die Auswanderung der Klänge"

So werden nach dem Krieg, im Monokanal, schwierigste, handgemachte Kreuzblenden mit langer Schere und Klebepinsel möglich, also feinste Zeitsynthesen im realen Informationsmaterial. Und das ist das Erbe des II. Weltkriegs: Zeitsynthesen im Informationsmaterial; ihre Wissenschaft heißt Kybernetik und Informatik, die Gerätschaften heißen Radar und sehr bald dann Computer. World War II hinterläßt hochfrequente Abtasttechnologien zum Erkennen von schnellen Flugkörpern, was wiederum die Mathematik der Flak und die der schnellen Rechner inauguriert, hinterläßt das Sichtmedium des Radars, den Bildschirm, hinterläßt Abtast- und Dekodiermaschinen, die im Nano-Sekundenbereich Bild- und Informationserkennung leisten. Time Axis Manipulation, - wie es auch die analoge und langsame Bandmaschine tat.
Mit der T9 von Telefunken, 78cm/sek mono, die wenige Jahre nach Wiedereinführung des föderalen Rundfunks unter aliierter Kontrolle allenthalben zur Verfügung steht, wird das Instrument Rundfunk kontrollierbar. Selbst kleine Beiträge können jetzt sorgfältig produziert werden und damit erledigt sich die Frage der Zensur wie von selbst, das System gesellschaftlich und gesetzlich kontrollierter Runfunkveranstaltung findet in der Tatsache, daß nun ein technisch perfektes Instrument der Produktion und Voraufnahme existiert, wie von selbst eine materielle Erfüllung.

Sendungen, deren hauptsächliche Elemente bereits auf Band vorliegen, lassen sich besser timen und zeitlich disponieren, der Ablauf des Programms ist einfacher, weniger handwerklich komplex, alle verbindenden Ideen und ideellen Mechanismen, die für das Gelingen von live-Sendungen auf allen Seiten des Produktionsprozesses von Nöten waren, lassen sich formalisieren, vereinfachen und mit recht simplen Mitteln und Qualifikationsmaßstäben institutionalisieren.

So kann der Rundfunk in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten seine schweren Belastungen abwerfen; er wird zu einer Art ideellen Gesamtvolkshochschule des föderal neugefaßten Volkes; für jeden ist etwas dabei - der Morgenchoral fehlt so wenig wie die obligatorische Schulfunkstunde am Vormittag, das Mittagskonzert so wenig wie die beschwingten Melodien zum Tanztee, nachdem die Schulfunkstunde nach dem Mittagessen, noch einmal, gesendet wurde. Am früheren Abend eine Stunde Politik zur Zeit, dann Melodien zum Feierabend, volkstümliche Unterhaltung, am Samstag der Krimi, am Dienstag das anspruchsvolle Hörspiel und ansonsten der buntere Abend, die Radioillustrierte, das Audio-Variet © mit einem Schuß Exotik aus der ganzen Welt. Am späteren Abend, zur Nacht: Literatur, Kultur, Essays, am Samstag die Oper, regelmäßig auch das Orchesterkonzert.

Der Rundfunk als demokratische Bildungseinrichtung: Liest man aus heutiger Sicht die Programmfahnen der deutschen oder österreichischen Sender in den zwei Jahrzehnten nach 1945, so spiegeln sie eine heile, geordnete, ideelle Kommunikationsdemokratie, die wie ein ideelles Ordnungsschema der Wirtschaftswunderzeit erstrahlt. Die technische Basis der lückenlosen Aneinanderreihung der prästabilisierten Harmoniebilder ist die Viertelzoll-Tonbandmaschine, die Tage und Wochen, sekunden- d.h. zentimeter-genau vorzuplanen und zu produzieren gestattet.

Das Zweispurgerät ab Mitte der 50er Jahre ermöglicht den Zeit-Multiplex, den zeitphasensynchronen Stereoschnitt, auf etwa die Zehntelsekunde genau. Das führt in unseren Radioanstalten nur zur weiteren Optimierung des Gesamtablaufes, ermöglicht die Stereophonie, unterstützt die Erfolge der High-Fidelity-Technik, die einen Standard von Geräuschspannungsabständen selbstverständlich machen, der jenseits aller hörbaren Grenze liegt und damit ein Klangbild von Präsenz und Nähe erzeugt, das bislang unerhört war, - all dies führt zur Intensivierung der Wirkung des Radios, das nunmehr, bis ins Privateste hinein behaupten kann, ebenso kontrolliert wie ganz nahe bei den Menschen zu sein. Durch den Ausbau der UKW-Technik werden überdies die föderalen Grenzen und Zuständigkeiten unterstützt und unterstrichen; UKW-Frequenzen haben einen tatsächlichen Radius von etwa 80 Kilometern um den jeweiligen Sender herum, so daß übertragungstechnisch nunmehr die länderbezogene Aufteilung des ehemals großdeutschen Radios als vollendet gelten kann und wiederum, aus technischer Bedingtheit, wie selbstverständlich gegeben wirkt.

Aber die restaurative Ruhe im Nachkriegsdeutschland, die nicht nur im Radio soviel wohltuende Effekte hatte, währte, wie wir wissen, nur etwa 20 Jahre. Am Maßstab der produktionstechnischen Entwicklung betrachtet, die im Audio-Bereich vonstatten geht, ist die Idylle in der Tat mit den Beatles programmatisch erledigt. 1967 eröffnen sie, mit Vierspurgerät und sechs mühsam synchronisierten Ampex-Maschinen das Zeitalter der "Sergeant Pepper"s Lonely Hearts Club Band", und verhelfen damit einer Musik zum Durchbruch und zum heute alles beherrschenden Platz, die voll synthetisch, das heißt Spur für Spur, Instrument für Instrument, "Lonely Heart for Lonely Heart", nacheinander aufgespielt und durch die Mischung von Sergeant Pepper, alias George Martin (so hieß der Beatles-Produzent), eine Klang-Synthese ergibt, die im realen Zusammenspiel nicht herstellbar wäre. Bekanntlich endet "Good-Morning, Good-Morning" mit einer Reihe von Tierstimmen. John Lennon hatte die Idee, "das jeweils nächste Tier müsse immer eines sein, das das vorangegangene in der Natur bedrohe und fressen könne". [1]

Die Mehrspur-Zeitachsenmanipulation ist eine synthetische Kommunikation, in der Musik mit Musik, aber auch mit Außermusikalischem kommunizieren kann; es ist bis auf den heutigen Tag gängiger Standard aller Pop-Musikproduktionen. Darin liegt eine mediengeschichtlich nicht unbedeutende Paradoxie: Just in dem Augenblick, als die westlichen Industrienationen von Berkeley bis Berlin eine Kulturrevolte durchzittert, auf deren Panier allenthalben der Aufbruch zu neuen Kommunikations- und Lebensformen geschrieben steht, hängen dieselben Revoltierenden in aller Unschuld einer Musik und musikalischen Idolen an, die bereits mittels vollständig synthetischer Kommunkationsmaschinen hergestellt wird, z.B. in den von den Beatles 1967 perfektionierten Multitrackverfahren. In der Mehrspurproduktion wird ein wesentliches Element von Musik, nämlich die Gleichzeitigkeit der Klangaktion aufgelöst und in beliebige Algorithmen des Nach- über- und Nebeneinander verwandelt. Eine Berechenbarkeit greift Platz, die millisekundengenau Tonspuren, Hüllkurven und Hallräume, Overdubs und Fill-Ins einander zuordnet und am Ende ein Musikstück entstehen läßt, das es live in gemeinsamer Aktion, also gar nicht gibt.

Der Weg geht von zwei auf vier, auf 8, 16, 24 bis hin zu 48 Spuren, mit denen zum Beispiel Todd Rundgren 1974 als erster zwei Massengesänge, die in zwei verschiedenen Stadien und zwei verschiedenen Städten Amerikas mitgeschnitten wurden, auf ein Band multiplext und in einen Song, tonhöhengenau durch Harmonizer angleicht, um dann auf seiner LP Initiation 1975 konsequenterweise den Tod - "The Death of Rock "n" Roll" - zu verkünden.

Zu Unrecht, wie wir wissen; denn nur zwei Jahre später, mit dem Punk 1976, bricht ein weiterer Effekt der synthetischen Kommunikationsmaschinen hervor. Es entsteht zunächst im Underground, später zu Beginn der 80er, ein artifizieller Pop der erlauben wird, ohne ein Instrument zu spielen, ohne Notenkenntnisse Musik zu machen. Seit den 80er Jahren stehen für ABC oder Marc Almond, für Yazoo und Depeche Mode nicht nur reine tonale Echtzeitsynthesen im Synthi billig zur Verfügung, sondern auch tonale Echtzeitsynthesen von beliebig gespeicherten Klängen aus allen möglichen Digitalsamplern. Womit wir auf der derzeit letzten Stufe der Radiomusik und auf der letzten Stufe der Speichermedien angekommen sind, im Rap und im HipHop, in der Sekunden und Sekundenbruchteile von gesampelter Musik in digitalen Schleifen sequenziert werden und zum rhythmisierten, trommelnden, zitierenden und das Zitat verbiegenden Material einer schier endlosen Sprachwut übergehen. So kommt dann Kunst und Sprache in die Ghettos von Oakland, Harlem oder Los Angeles.

Diese Entwicklung der Radiomusik ist am Radio vorbei gegangen. Maschinisierte Kommunikationstechnik hat in unsere Funkhäuser lange nicht Einzug gehalten, wenn man einmal von ein paar bescheidenen Mehrspurstudios, die es inzwischen in größeren Häuser gibt, absieht. Warum auch: Kein Studio der ARD, des ORF oder gar privater Veranstalter von Hörfunk kann technisch mithalten mit der Ausstattung auch nur eines mittelgroßen Popmusik produzierenden Studios, das inzwischen nahezu in jeder mittelgroßen Stadt zu finden ist. Es fehlt uns nicht das Geld, wohl aber die Manpower, die nötige Arbeitsteilung und damit der Zugang zu einem Produktions-Equipment, das für die Popmusik wesentlich ist. [2]

Also: Das, was inzwischen das Gros der Programme europäischer Radiostationen ausmacht, wird in diesen Häusern nicht produziert. Ich nenne das die Auswanderung der Klänge aus dem Radio. Diesen Trend hat inzwischen auch das Hörspiel erreicht: Einige preisgekrönte Hörspiele der letzten Jahre, wie z.B. Goebbels/Müllers Wolokolamskajer Chaussee sind nicht im Radio, sondern in privaten Studios entstanden. Was heißt das?

In unserer vernetzten Informations- und Kommunikationswelt hat das Radio einen immer geringer werdenden produktiven Anteil. Es reproduziert die entstandenen Klangwelten, aber gestaltet sie selbst kaum noch. Während das Fernsehen in Europa zumindest noch einen schmalen Anteil an der Produktion dessen hat, wovon es lebt: nämlich an Filmen, die es initiiert und finanziert, ist das im Hörfunk völlig anders. Hier spielen die Massenwellen ab, was aus der Musikindustrie kommt. Das Problem ist, daß genau diese Massenprogramme, die also immer ununterscheidbarer werden, sich der höchsten Quoten erfreuen und Wortwellen, die im klassischen Sinne Radio bieten, immer weniger frequentiert werden.

FUSSNOTE:

[1] Diedrich Diederichsen, Toaster und Selector - Sound - Recycling in der Rockmusik, Unveröffentl. Typosskript 1993, S. 1

[2] Der Popmusik-Ingenieur ist mehr als nur Techniker, sein Ort ist ein anderer. Er ist kreativer Soundgestalter, der den Musikern und Produzenten fortgesetzt Angebote machen muß und oft genug ist der Techniker selbst musikalischer Produzent. Popmusiker wie Phil Collins oder Bruce Springsteen, Madonna oder Prince haben ihre eigenen Studios, in denen die Musik entsteht.

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[8] "über das Radio (hinaus)"