Ein Symposion zur Theorie und Praxis einer Kunst im elektronischen Raum. Am Beispiel der Radiokunst.
ANMERKUNGEN ZUM VOLKSEMPFANG
von
Friedrich Kittler



Radio läuft so einfach wie Wasser aus der Leitung. Derselbe Staat, der seit 1870 seine Bevölkerungen unter planmäßigen Waschzwang setzte 1), hat es den Europäern ja beschert. Daß Rundfunkempfänger auch über einen Sendersuchlauf verfügen, scheint nur noch beim Autofahren klar, zu Hause aber-nach statistischen Erhebungen dieser Haushalte - völlig vergessen. Während die Krise des Fernsehens immerhin einen neuen Volkssport namens Zapping hervorgebracht hat, bleibt der einmal eingestellte Rundfunksender, nur von An und Aus unterbrochen, auf Dauerempfang .

1.

Über Medien, die ihren Sättigungsgrad erreicht haben, ist schwer zu schreiben. Sie verschwinden im Zusammenfall von Hochtechnologie und Alltäglichkeit. Sie dringen, wie einst nur die Nachtigall, aus allen Nachbarhöfen ans Ohr, um im Glücksfall, nicht anders als der Vogel aller Lyrik, Gottfried Benns Gedichte auszulösen 2) Im Normalfall dagegen steht (mit den Ingenieuren gesprochen) die Leitung, obwohl oder gerade weil sie drahtlos ist. Vor allem durch den Kunstgriff, als erstes elektronisches Programmedium Tag und Nacht zu füllen, ist das Radio zur platonischen Wesenheit geworden, die den Stoß des Ereignisses, Medium zu sein, zu unaufhaltsamem Verschwinden bringt.

Und doch entspricht dieses Verschwinden auf Empfängerseite nur dem auf Senderseite. Was auf der stehenden, aber drahtlosen Leitung schließlich beim Hörer ankommt, hat mit der Technologie des Mediums nichts zu schaffen. Da Niederfrequenz, dort Hochfrequenz, da akustische Schwingungen, dort elektro-magnetische. Nicht umsonst hat Shannons Informationstheorie, der alle modernen Medien auch praktisch gehorchen, den Empfänger und die Senke einer Information, im Radiofall also die Apparate und die Hörer, kategorisch unterschieden, aber nur, um der mathematischen Theorie selbst jede Berücksichtigung der Senke von vornherein zu ersparen 3) So verläuft eine Trennlinie, die selber unhörbar ist, zwischen dem Gehörten und dem Gesendeten. Schon die technische Prämisse aller Radioübertragungen zieht diese Grenze: Die hochfrequenten Trägerwellen, denen das niederfrequente Sprach- oder Musiksignal aufmoduliertworden ist, strahlen seltsamerweise erst bei Frequenzen, die mit Sicherheit über der oberen Hörgrenze von Menschenohren liegen, von der Sendeantenne in den freien Raum ab. übertragung beginnt also, wo alle Empfangsmöglichkeiten aufgehört haben.

Zur technischen Grenze tritt zweitens eine militärisch-industrielle, die nur den Ursprung aller Radioschaltungen im Ersten Weltkrieg fortschreibt. All die zivilen Frequenzbänder auf Lang-, Mittel- Kurz und Ultrakurzwelle, so weit sie auch über ihre Senke in Menschenohren hinausreichen, verschwinden als winzige Fenster in einem Spektrum, das vom Gigahertzbereich der Spionagesatelliten bis zum Längstwellenfunk der unterseeischen Raketenträgersysteme reicht. Daß also hier, auf der menschenzugewandten Seite der Medien, im Normalfall eine einzige drahtlose Leitung steht, entspricht der Verteilung von Frequenzbändern nur allzu genau. Dort dagegen, im elektronischen Niemandsland, "wo die Imperien herrschen, die es nicht gibt 4), gilt Shannons Theorie in aller Strenge. Erstens sind zivile Rundfunkgeräte (mitsamt ihren menschlichen Senken) durch Gesetze oder Erlässe, die seit dem Gründungstag von Zivilrundfunksystemen gelten, gegen den Empfang militärisch-industrieller Informationen grundsätzlich plombiert.5) Und zweitens können die imperialen Systeme mittlerweile auf Informationssenken auch ganz verzichten: Bei der National Security Agency, dem weltweit größten Funkabhör-Geheimdienst im amerikanischen Fort Meade, läuft die Auswertung aufgefangener Signale seit 1957 automatisch, nämlich über Entschlüsselungscomputer6) So entspricht der Schließung des Unterhaltungsmediums Radio nur allzu genau eine Selbstschließung von Informationstechnologien auf der anderen, der menschenabgewandten Seite.

Was die Empfängerantenne hereinholt, ist mithin nicht nur, wie das Licht schon seit Herschel und Ritter, ein wahrnehmbarer und in Goethebüchern auch noch beschreibbarer Sonderfall zwischen zwei unsichtbaren Grenzbereichen namens Infrarot und Ultraviolett; es ist ein unwahrnehmbarer, aber noch erlaubter Sonderfall im großen Arsenal der Arcani imperii. Immer wenn oder nur wenn wieder einmal geputscht wird, wissen es plötzlich alle. Dann stehen Schützenpanzerabteilungen vor den Sendehäusern, ob in Wien, Moskau oder Bagdad, um zwischen Imperien und Leuten einen singulären Kurzschluß zu schalten. Sadam Hussein soll einmal gesagt haben, daß die angebliche Sozialrevolution, die ihn an die Macht brachte, selbstverständlich ein schlichter Radioputsch war, nur eben der letzte in Iraks Geschichte. Denn seitdem er an jener Macht ist, sind alle irakischen Sendehäuser ins Herz des Putsches selber verlagert: in die schwerbewachten Innenhöfe von Panzerdivisionskasernen. 7)



2.

Zunächst und zumeist aber, im Intervall der Ausnahmezustände, gibt es zwischen Imperien und Leuten die Standards Sie sorgen dafür, daß und wie das Unhörbare im Lautsprecher Ton, das Unsichtbare auf dem Bildschirm Bild wird. Gerade weil Unterhaltungsmedien nur laufen, wenn sie alle Maßstäbe der Wahrnehmung für Zeit und Raum unterlaufen, sind Standards notwendig wie Kupplungen, die einem durchgemessenen Ohr oder Auge aus lauter Wellensalat das Seine antragen. Ob dieses Seine der physiologischen Bandweite von Sinnen entspricht oder, wie im klassischen Fall der Mittelwelle, nur ein Kompromiß zwischen verfügbaren Frequenzbändern und interessierten Rundfunknationen ist, spielt solange keine Rolle, wie noch kein neuer Standard einen durchgesetzten im nachhinein bloßstellt. Eben weil die Selektion die möglichen von den unmöglichen Phantasmagorien am Medienausgang immer schon ausgrenzt, kann sie selber nur verborgen bleiben. Das ist der ganze Unterschied zwischen Medienstandards und Kunststilen.

Im Weltzeitalter der Künste durften Kulturverbraucher, was ästhetisch der Fall war, grundsätzlich sehen oder hören. Ausgespart blieben nur die Geheimnisse der Werkstatt und allenfalls noch, seitdem die Goethezeit ein Phantom namens Autor ins juristischästhetische Leben gehoben hatte, die Geheimnisse eines Künstlerlebens. Der Stil aber, ob mit diesem Menschen alias Künstler schon identisch oder noch nicht, mußte einfach deshalb Phänomen werden, um am einzelnen Kunstwerk "zu erkennen, was es anderen Kunstwerken verdankt und was es für weitere, neue Kunstwerke bedeutet" 8)

Im Medienzeitalter, obwohl es so viel mehr zu sehen und zu hören gibt, sind weit hinter den Werkstätten und Künstlerseelen lauter neue Geheimnisse entstanden. Bevor ein Fernsehbild steht oder eine Radiosendung läuft, müssen schon, um vom Stil ganz zu schweigen, Infrastrukturen aufgebaut sein, deren Technik fast jeder Beschreibung spottet. Was auf Datenblättern oder in Normungsausschüssen vorab entschieden wird, bestimmt eben deshalb, weil es selber weder zu sehen noch zu hören ist, über Augen und Ohren. Vor jeder Ausdeutung der Endabnehmer, aber auch vor jedem Kunstwillen der Regisseure oder Programmgestalter stehen technische Standards und elektronische Grundschaltungen, die unsere sogenannte Medienästhetik strenger vorprogrammieren als jeder historische oder individuelle Stil.



3.

Als das alles noch neu war, sind die Leute erschrocken. Der Doppelgängereffekt in frühen Stummfilmen, also vor dem Ersten Weltkrieg, zitierte nur das Erschrecken vor der Kinokamera selber, wie sie Körper in ihre Doppelgänger verwandelte. Die Bergwerke und Schützengrabenunterstände in früen Hörspielen, also nach dem Ersten Weltkrieg, zitierten nur das Erschrecken vor dem Radio selber, wie es Körper in unsichtbare Hörwelten entführte. Hinter solch melodramatischer Panik, die im Studenten von Prag oder in der Comedy of Danger ja ganze Kino- oder Hörspielhandlungen tragen konnte, stand aber die unmögliche Einsicht, einer Zeit anzugehören, deren Existenzbedingungen angewandte Mathematik waren und sind. Differentialgleichungen und nur sie beschreiben, was mit elektrischen Wellen der Fall ist; Werte der Booleschen Algebra und nur sie beschreiben, was mit digitalen Schaltungen der Fall ist.

Daher das ganze Entsetzen der Juristen um 1900, das Rechtssystem um Eigentümer erweitern zu müssen, die nicht mehr einem ebenso unauffindbaren wie geglaubten Reich des Geistes, sondern dem unauffindbaren, aber realen Reich Maxwellseher Felder zurechneten. Auf allen Bereichen, vom Urheberrecht bis zum Kriegsrecht, mußte immaterielles Eigentum erst einmal erfunden werden.

Dem Phantom namens Autor, wie es vom Urheberrecht der Goethezeit inthronisiert worden war 9), erwuchsen in Film und Radio lauter technische Doppelgänger oder Konkurrenten. Aber nachdem der erste Schrecken vorüber war, verlangten die Doppelgängerlieferanten ihr Recht und mehr noch "den annihilierendsten Sigifikanten, den es in Bezug auf Signifikation überhaupt gibt: ihr Geld,,10) Einem deutschen Rundfunk gegenüber, dessen erste drei Jahre das Urheberrecht von Schauspielern an ihren Reden ebenso souverän ignoriert hatten wie das von Schriftstellern an ihren Werken, mußte die Bühnengewerkschaft, um auf dem Markt technischer Medien nicht bloß Konkurrenz, sondern auch Profit zu erfahren, erst einen Musterprozeß beim Bühnenschiedsgericht anstrengen. Die Theaterleute bekamen schließlich ihr Recht und ihr Geld, aber nicht als Eigentumsanspruch aufs radiophone Simulakrum von Menschenstimmen, sondern lediglich als Entschädigung für eine Beeinträchtigung, die der Persönlichkeit als solcher, den Juristen von 1925 zufolge, aus der Rundfunkübertragung ihrer Stimme widerfuhr. 11)

Nicht viel anders liefen die Dinge auf den Schlachtfeldern. Blockade, wie ein altehrwürdiges Kriegsrecht sie definiert hatte, sah den Fall einfach nicht vor, daß moderne Blockadebrecher seit 1905, dem Russisch-Japanischen Krieg, mit materielosen Funkwellen operieren. Eine Leere jenseits der Menschen hat selbst das alte Handwerk des Krieges zersetzt und im Zweiten Golfkrieg, elf Stunden bevor die ersten Bomberpiloten den irakisehen Luftraum verletzten, als Electronic Warfare auf allen möglichen Funkfrequenzen schon gesiegt.

Daß die Begriffe für das Unwirkliche seiner Wirklichkeit so lange hinterher hinkten, ist also kein Wunder. Professor Adolf Slaby, dem auf kaiserlichen Befehl die Ehre zugefallen war, Wilhelm II. und seine Kriegsmarine (lange vor jeder Radiounterhaltung) mit drahtloser Telephonie zu beglücken, nannte sein Sachbuch nicht umsonst Entdeckungsfahrten in den elektrischen Ozean. Und Lee de Forest, der zumindest nach amerikanischer Lesart durch Erfindung der Triode und ihrer Rückkopplungsschaltung das Radio als Massenartikel erst möglich gemacht hat, rühmte sich autobiographisch der "Entdeckung eines Unsichtbaren Imperiums der Luft" - "unberührbar, aber solide wie Stein; unwägbar, aber höchst substanziell, gleichermaßen weltlich wie empyreisch,,12)



4.

Mittlerweile, durch einen Medienverbund, der jedem Medium das nächste als Inhalt unterstellt, bis Radio und Fernsehen, Presse und Musikindustrie in einer einzigen Rückkopplungsschleife aufgehen, hat dieses Staunen keinen Leerraum mehr. Der Schrecken vor dem Immateriellen und die Ehrfurcht vor dem Empyreum sind einer Alltäglichkeit gewichen, die die siegreiche Durchsetzung der Medientechnologien ebenso beweist wie verbirgt. Schon deshalb ist die große Versuchung aller Medienwissenschaft, als Mediengeschichte vorzugehen, eine Versuchung im Wortsinn. Sicher kann die Dramatisierung von Gründerhelden, auf der breiten Spur ihrer Autobiographien, das Staunen der frühen Radiobastler, Fernsehtechniker oder Filmregisseure in Erkenntnis überführen. Aber erstens ist es schon lange her, daß ihre Patente, zumal die amerikanischen, an prozeßerfahrenere Elektrokonzerne gefallen sind. Und zweitens bringt es Gefahr, eben die Medientechniken, mit denen Geschichte im überlieferten Sinn, Geschichte als Schrift mithin, womöglich ans Ende gelangt ist, dieser Geschichte wieder fraglos einzuverleiben.

Unter solchen Umständen scheint es nur zwei Wege zu geben, um die abwesende Anwesenheit von Medientechnologien zu denken, ohne einem neuen Historismus zu huldigen: den Weg einer Mathematisierung und den einer Kehre. Lacan, als ihn die Studenten von 1968 mit einem gewissen Roten Buch belagerten, hat den ersten gewählt und Revolutionäre verspottet, die vor lauter altmodischem Handbuchwissen den Stand der technischen Dinge vergaßen 13).

Ohne daß wir es im mindesten vermuten würden, ist die Welt, die vormals als die unsere galt, heutzutage an eben dem Ort, den wir selber einnehmen, in beträchtlicher Anzahl von sogenannten Wellen bewohnt. Das ist als Manifestation, Gegenwart oder Wirklichkeit der Wissenschaft nicht zu vernachlässigen und macht es eigentlich nötig, nicht immer nur von Atmosphäre, Stratosphäre und so weiter zu sprechen, wenn es um die Umgebung unserer Erde geht. Heutzutage müßte man auch etwas in Rechnung stellen, was viel weiter reicht.[ ... ]

Die Ausweitung der Wissenschaft - die sich seltsamerweise ja auch sehr effektiv bei der Bestimmung dessen erweist, was ist - hat die Erde mit ihren Fabrikationen umgeben, mit nichts anderem also als den Effekten einer formalisierten Wahrheit. Es geht um einen Platz, den wirklich und wahrhaftig elektrische und andere Wellen einnehmen. Keine Phänomenologie der Wahrnehmung hätte uns jemals die mindeste Vorstellung von ihnen gegeben, ja sie hätte uns mit Sicherheit nie zu solchen Wellen geführt.14) Medien als Ausweitungen der Wissenschaft sind ersichtlich nicht, wie bei McLuhan, Ausweitungen des Menschen. Im Gegenteil, der ironische Hinweis auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung macht zur Genüge klar, daß Technologien jeder Einsicht oder Introspektion entzogen sind. Als "Effekte einer formalisierten Wahrheit" verweisen sie einzig auf Zeichenketten einer großen Papiermaschine namens Mathematik. Um so offener aber bleibt die Frage, wie diese Wellen, einmal mehr also de Forests "Unsichtbare Imperien der Luft", dann noch über den Alltag der Leute, die Lacan ja "Untertanen" der Medien genannt hat 15), sollen bestimmen können.



5.

Dem einzigen Heidegger ist es womöglich, um weichen Preis auch immer, gelungen, die Verschaltung zwischen Apparaturen und Leuten als solche zu fassen. Denn Technik hieß bei Heidegger das seinsgeschichtliche Ereignis, das dem Denken keine ontologische Trennung zwischen Mensch und Sein mehr erlaubt, sondern, wie heillos auch immer, erstmals davon zeugt, daß sie immer schon einander vereignet sind. Nichts anderes sollte, in Heideggers Lesart, das Hölderlin-Wort von der Gefahr und dem Rettenden besagen.

Deshalb war es auch Heidegger, den der Ruf des Radios nicht nur in den bekannten, oft beschriebenen Versuchungen der Politik, sondern im Denken selber erreicht hat. Was er seine Kehre nannte, also den Versuch, das Ereignis von Sein und Mensch nicht mehr phänomenologisch von der Ausstattung eines Lebewesens her zu beschreiben, entsprang einfach der Unhaltbarkeit einer Philosophie, die Medien auf Ausweitungen des Menschen zurückzuführen und damit zu vermenschlichen suchte. 1927, in Sein und Zeit, hatte es noch geheißen:

Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe. Alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mitmachen, drängen auf überwindung der Entferntheit. Mit dem

"Rundfunk" vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Ent-fernung der "Welt" auf dem Wege einer Erweiterung der alltäglichen Umwelt.16)

Das Radio, damals in Europa noch keine fünf Jahre alt, brachte es also schon zum Rang einer philosophischen Kategorie. Um die Ontologie nicht mehr wie üblich auf Dinge zu gründen, sondern auf Beziehungen, die real und gleichwohl immateriell sind, also etwa bei der "wesenhaften Tendenz auf Nähe" keinen einzigen Fuß oder Stein zu bewegen brauchen, wäre ein besseres Beispiel als "'Rundfunk"', jene von der Reichspost amtlich erzwungene Eindeutschung von Radio, kaum beizubringen gewesen. Und doch verschwand diese Post sogleich wieder hinter einem "wir", das die Technisierung MitteIeuropas bloß erduldete, obwohl oder weil es als "Dasein", mithin als Wesen des Menschen, diese einzigartige Erweiterung nicht zwar seiner selbst (wie bei Freud oder McLuhan), aber doch der alltäglichen Umwelt höchstselber "vollzog".

1938, in der Zeit des Weltbildes oder Großdeutschen Rundfunks, war mit solchen Zweideutigkeiten plötzlich Schluß. An genau der Stelle, wo das Dasein einerseits zur ingenieursmäßigen Selbsterweiterung geschritten war, nur um andererseits als Radiokonsument oder Schwarzwaldbewohner an seinem eigenen Wesen zu leiden, trat die "Neuzeit" selber ins Stadium einer Wesenserfüllung, der sie "mit einer den Beteiligten unbekannten Geschwindigkeit zurast":

Ein Zeichen für diesen Vorgang ist, daß überall und in den verschiedensten Gestalten und Verkleidungen das Riesige zur Erscheinung kommt. Dabei meidet sich das Riesige zugleich in der Richtung des immer Kleineren. Denken wir an die Zahlen der Atomphysik. Das Riesige drängt sich in einer Form vor, die es scheinbar gerade verschwinden läßt: in derVernichtung der großen Entfernungen durch das Flugzeug, im beliebigen, durch einen Handgriff herzustellenden Vor-stellen fremder und abgelegener Welten in ihrer Alltäglichkeit durch den Rundfunk.17) Elf Jahre nach Sein und Zeit sind also sämtliche Vorzeichen vertauscht: Zunächst hat eine weltweite Alltäglichkeit von Kurzwellensendern die umweltliche, also deutsche Alltägl ichkeit aus Reichspost und Mittelwellenradio abgelöst. Zweitens tritt das Radio mit dem Flugzeug in eine syntaktische Verschaltung , die seit den Atlantikflügen Lindbergs und Balbos ja nur noch ihre medientechnische Verschaltung und das heißt den Sachverhalt bestätigen kann, daß Raumvernichtung ohne Funkverbindungen nicht möglich geworden wäre. Drittens schließlich ent-fernt kein Dasein eigene Umwelten oder Welten mehr, sondern die Neuzeit alias Technik selber rast mit einer Geschwindigkeit, die nur die von elektrischen Wellen

sein kann, ihrer Wesenserfüllung entgegen. Das Radio, mit anderen Worten, hat Heideggers Kehre erzwungen. Sein Ruf nötigte das Denken, gerade um die Neuzeit zu begreifen, auf deren ersten und letzten Leitbegriff zu verzichten: Jede Rede vom Subjekt (auch noch in seiner begrifflichen Liquidierung zum "Dasein") würde den Menschen, wie die Technik ihn ebenso unterwirft wie braucht, doch wieder zum Herrn der Technik umfälschen.



6.

Eins aber ist es, diese Kehre zu vollziehen; ein anderes, mit ihr zu arbeiten. Auf jener menschenabgewandten Mondseite wie die Rede von Medien sie (schon seit Schiller) 18) immer nur umschreibt, laufen Dinge und Unterschiede auch, ohne Ereignis im (AIItagsverstand) zu werden oder Ereignis (in Heideggers Wortsinn) zu sein. Nur in einer Zwischenphase, als Analogmedien wie das Radio die Herrschaft antraten, aber (nach einem Wort des Radioerfinders Marconi) im Unterschied zur Zeitung sofort wieder verschwanden 19), hatten die Medien an ihnen selber keine Zeit, kein Gedächtnis und damit keine Strategie. Die Mediensysteme bildeten nur Schaltnetze, deren Ausgangsvariablen eindeutig durch die Eingangsvariablen bestimmt sind, aber noch keine Schaltwerke, bei denen "die Ausgangsvariablen zusätzlich vom jeweiligen Zustand des Systems und damit von der Vorgeschichte abhängen". 20)

Im Medienverbundsystem von heute dagegen ist das Privileg, über dynamisches Gedächtnis oder eben Geschichte zu verfügen, dem Menschen längst abgenommen. Subsysteme, die ihre eigene Vorgeschichte speichern, können ganze Populationen bilden und auf strategischer Ebene miteinander operieren. Deshalb steht vor den Endabnehmern, diesen Käufer- oder Empfängermassen, schon eine vorgeschaltete Masse von Systemelementen selber. UKW-Netze erreichen Bevölkerungen noch im letzten Bergtal nur darum so flächendeckend, weil ihre Antennentürme nach dem Prinzip des BalIempfangs, also durch Abhören, Zwischenverstärken und Wiederabstrahlen, selber eine Bevölkerung darstellen. Computerbetriebssysteme, wenigstens wenn sie nicht aus der Steinzeitpartnerschaft von IBM und Microsoft stammen, stellen so viele und teilweise so versteckte Programme bereit, daß der UNIX-Name daemon allmählich zur Widerlegung aller Begriffe von Gesellschaft, nämlich zur Wahrheit wird.

Heideggers Ereignis, auf seiner menschenabgewandten Seite, zerfällt also in Mannigfaltigkeiten, von denen niemand weiß, ob sie - wie etwa die mittlerweile zur fünften Generation fortgeschrittenen Programmiersprachen - selber noch Geschichte haben. Sicher ist jedenfalls, daß all diese Populationen über strategische Fähigkeiten verfügen, und allenfalls vermutbar, daß sie Strategien ganz einfach sind.

Unter diesen Strategien aber bleibt der Funk entscheidend. Je alltäglicher das Radio als Sekundärmedium ganzer Bevölkerungen läuft, je mehr sein Glanz in Fernsehbilder, die immer noch Funk sind, oder in Glasfaserkabel, die keiner mehr sind, auswandern wird, desto eher findet es zur Menschenferne seines physikalischen Wesens. Schon Marconi rätselte, ob das Rauschen, unter dem die ersten Transatlantik-Experimente in drahtloser Telephonie so litten, gar keine Störun~, sondern Funkverkehr von fremden Sternen sei. 21) Und als Kurt Mondaugen, der Ingenieur aller Pynchon-Romane, auf seinem Horchposten in der Kalahari dieses Hintergrundrauschen abfing, lautete der schließlich entziffer-te Funkspruch "DIEWELTISTALLESWASDERFALLlST" 22)

Es gibt also eine Schnittstelle, an der Radio als "Fabrikation der Wissenschaft" mit Radio als kosmischer Elektronik zusammenfällt. Der Volksempfang , für alle Fälle, bleibt an sie angeschlossen.



Anmerkungen:

1) Vgl dazu Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl Leipzig-Wien 1902-1908, Artikel Wasserleitungen: "Seitdem man die hohe Bedeutung einer reichlichen Versorgung der Städte mit gutem Wasser für die Gesundheit und Lebenshaltung der Bewohner erkannt hat, sind viele Städte mit W. versehen und dabei EinriChtungen getroffen worden, die eine Steigerung des Wasserverbrauchs in allen SChiChten der Bevölkerung bezweckten" [I].

2) Vgl Friedrich Kittler, Benns GediChte - "Schlager von Klasse". Ein Lyriker unter medientechnischen Bedingungen. In: Manuskripte. Zeitschrift für Literatur, 106, 1989, S. 56-62.

3) Vgl Claude E. Shannon/Warren Weaver, Methematische Grundlagen der Informationstheorie, München-Wien 1976, S. 43- 45.

4) Bernhard Sieger!, Der Untergang des römischen Reiches. In:

Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hrsg. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/M 1991, S. 511.

5) Vgl. Heinz POhle, Der Rundfunk als Instrument der Politik. Zur Geschichte des deutschen Rundfunks 1923/38, Hamburg 1955, S. 45-47.

6) Vgl James Bamford, NSA - Amerikas geheimster Nachrichtendienst, Zürich-Wiesbaden 1986, S. 133-137 und S. 308f.

7) Vgl Zuhdi AI-Dahoodi, Moscheen als Rundfunkzentralen. Das (v)ideologische Patchwork Sadam Husseins. Erscheint in: Me::Jien/Revolution, hrsg. Wolfgang Ernst und Friedrich Kittler, Leip~ig 1992.

3) Niklas LUhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion jer Kunst. In: Stil GeschiChte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, hrsg. Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/M. 1986, S. 632.

9) Vgl Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn-München-Wien-Zürich 1981.

10) Jacques Lacan, Das Seminar über E.A. Poes Der entwendete Brief. In: Schriften, hrsg. Norbert Haas, Olten-Freiburg/Br. 1973- 1980, Bd. I, S. 37.

11) Vgl. August Soppe, Der Streit um das Hörspiel 1924-25. Entstehungsbedingungen eines neuen Genres, Berlin 1978, S. 68- 73.

12) Lee de Forest, Father of Radio, S. 4.

13) Jacques Lacan, Le seminaire, livre XVII: L'envers de la psychanalyse, hrsg. Jacques-Alain Miller, Paris 1991, S. 174.

14) Lacan, Le seminaire, livre XVII, S. 185 und S. 187 (meine übersetzung).

15) Vgl Jacques Lacan, Le seminaire, livre XX: Encore, Paris 1975, S 76: "[Le discours scientifique] a engendre toutes sortes d'instruments qu'il nous faut, du point de vue dont il s'agit ici, qualifier de gadgets. Vous etes desormais, infiniment plus loin que vous ne le pensez, les sujets des instruments qui, du microsco pe jusqu'a la radio-television, deviennent des elements de votre existence."

16) Martin Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, 3. Aufl Halle/S. 1931. S 105.

17) Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes. In: Holzwege, 4. Aufl Frankfurt/M. 1963, S. 87.

18) Vgl. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. SämtliChe Werke. Säkularausgabe, hrsg. Eduard von der Hellen, Stuttgart-Berlin 1905, Bd. XIII, S 17.

19) Vgl. Orrin E. Dunlap, jr., Marconi. The Man and His Wireless, London 1937, Nachdruck New York 1971, S. 266: "A reporter inquired if [Marconi] agreed with the theory that broadcasting would harm newspapers. The idea seemed to amuse him. "Radio can never take the place of the newspapers," he exclaimed. "Rather do I believe broadcasting encourages newspaper reading. For instance, I listen to so me interesting news. I call my wive to share it and discover I cannot find her. She has gone out. If she wants the same news later she must get it from the newspaper and not from the loudspeaker The news paper has a distinct advantage; it is arecord.

When a man speaks over the radio he can deny he ever made such astatement, unless a recording is made of the speech. It is not so with the newspaper. The matter is there in black and white. Newspaper clipping can be preserved in a scrapbook. You cannot do that with broadcasting."

20) Ulrich Tietze/Christian Schenk, Halbleiter-Schaltungstechnik. 5. Aufl. Berlin-Heidelberg-New York 1980, S. 454.

21) Vgl Dunlap, Marconi. The Man and His Wireless, S. 267f.

22) Thomas Pynchon, V. Toronto-New-York-London_Sydney 1981, S 258.