Kunstradio Projects / Literatur als Radiokunst

Thomas Ballhausen:

Abecedarium. 26 Lektionen.

[A wie anfangen, Angst, Anruf. A wie A.]

JA? Wer? DU? Ach was, verwählt. Von wegen. VERWÄHLT?! Wahrscheinlich bist Du wieder auf der Suche nach IHM. Aber: NIE wieder. Und die Ungewißheit? Schlimm, schlimm...jaja, auflegen. Das wolltest Du doch. Und die erzwungene Operation, die er ihr aufgenötigt hat. Das HERZ ist ihr explodiert. Ja, das HERZ; was ist denn ein Herz wert, wenn es gebrochen werden kann? Die Wahrheit? Du hast doch schon Deine dreckige Wahrheit, da hat meine doch keinen Platz mehr. Das interessiert doch niemanden: die Wahrheit.
Mitleid? Ich kann das nicht mehr, mitleiden. Aber leiden. Danke, ich leide bestens, ich leide ganz ausgezeichnet. Nur Dich nicht, Dich kann ich nicht leiden, nicht MEHR. Und ES IST, es WAR gut so, und darum Zug um Zug, Prinzessin um Prinzessin und PUNKT. Auflegen.

[B wie B-52s, benutzerdefiniert, beziehungsweise. B wie B.]

Am späten Nachmittag erwachend, merke ich, daß Deine Seite des Bettes erneut leer geblieben ist. Ich schließe nochmals die Augen, zähle bis TAUSEND, dann erst stehe ich auf. Die Katze streicht um meine Beine, während ich das Teewasser aufstelle, kratzt mich, nachdem ich sie gefüttert habe. Frühstück, Badezimmer, der obligate Blick in den Spiegel, doch ich erkenne mich nicht. Schuhe, Jacke, eine Sonnenbrille, "DENN DIE ZUKUNFT IST GRELL, SO GRELL", daß... Noch ein Blick in den Spiegel, doch ich komme mir noch immer nicht bekannt vor. Die Tür schließen, den Aufzug rufen, doch das Schild tobt mich an: AUSSER BETRIEB; und dann macht für einen Moment alles Sinn.

[C wie Cäsarenlob, Chimäre, Chrom. C wie C.]

Na, Sueton, das hättest Du Dir alles nicht träumen lassen. Und trotz des Messers in meiner Seite wirst Du keine Zeile an mich verschwenden. Natürlich nicht. Nicht ob dieser Geisterbeschwörung, nicht ob all dieser Beleidigungen. Aber wenn Du Dich jetzt schon attackiert fühlst, so SEI GEWARNT; denn: ich habe noch nicht angefangen. Wie könnte ich auch anders, sind doch die Tore in die Unterwelt so weit offen, ständig, so sagt man. Und nur der Aufstieg aus dieser Unterwelt ist lang und beschwerlich - nicht wahr, Johnny Milton? Die Hölle verschlingt mich, doch sie verdaut mich nicht. Aber die Engel bleiben aus, am Ende bleiben die Engel immer aus. Tragisch, tragisch - nicht wahr, Johnny Milton?

[D wie Distanz, Dekonstruktion, Diaphragma. D wie D.]

Wir starren aneinander vorbei, die gute Dame und ich. Langsam wird der Tee kalt, seine Wärme vergeht, löst sich auf. Vorsichtig schiebe ich eine der Figuren zwei Felder weiter, deute einen Ausfall an. Sofort: die Blockade, der drohende Gegenschlag einer ALLESVERNICHTENDEN Springer-Läufer-Kombination. Zuviel Film, denke ich bei mir, und warte weiter. Wir starren einander an, die gute Dame und ich. Aber nur kurz. Dann wird der Blick wieder auf das Brett geheftet. Eine Dame zuviel; so kann ich einfach nicht mehr gewinnen. Der Kopf des Königs poltert, als er aufschlägt.

[E wie Ekel, Erinnye, Eskapade. E wie E.]

Gut vorbereitet begebe ich mich zum Treffpunkt, heute abend habe ich ein Date mit Euklid, mit EUKLID. In meiner Aktentasche: streng gemusterte Papiere: streng gestreift: liniert, streng kariert: möglichst kleinkariert. Und während ich so dahineile, frage ich mich, ob denn Zeichnungen da überhaupt Platz haben, da überhaupt noch PLATZ haben werden. Und wie ist es erst mit der Schrift; mal groß, mal klein, mal zu klein. Aber Schrift ist keine Frage der Größe, Format ist keine Frage der Größe, der Länge, des Umfangs. Aber da sind ja auch die Papiere mit dem Korrekturrand, mit dem wunderbar roten Korrekturrand, für die richtige Schrift, die berichtigende Schrift, die korrekte, NEINNEIN: die korrigierende Schrift. Ob dieser Bedrohung laufe ich, die Papiere ausstreuend, laut heulend zurück. Euklid kann mir gestohlen bleiben, der Korrektor, der.

[F wie Feier, Fanatismus, Flamme. F wie F.]

Oh, und wie wir SPASS haben. Und Spaß und Spaß und SPASS. Besonders wenn wir uns karnevalesk geben möchten, ein klein wenig zu viel getrunken haben, um so leichter fällt es uns dann. Alles. Und als gute Karnevalsaktivisten drehen wir die Welt so richtig um, so gehörig, daß der Welt alles vergeht. Wir drehen um und um, wenden, bis alles aus ihr herausfällt, alles auseinanderfällt. Und wenn wir dann auf unseren Herrinnen dahinreiten wird uns aber nach und nach bewußt, wie sehr wir einander anekeln, wie sehr wir die anderen anekeln müssen, und so kann es - Karneval hin und her, um und um - so etwas wie ein GLÜCKLICHES ENDE dann eben doch nicht geben. Und wir können uns dabei wenden, uns drehen, um und um. Aber so gehörig wir uns auch ausschütten, uns vergeht dann alles so richtig, bis wir auseinander fallen.

[G wie Globus, Glutamat, Gier. G wie G.]

Schüchtern im Fotoalbum, im VERHASSTEN, verstaubten Fotoalbum blättern. Mit schüchternen Blicken und hilflosen Gesten um Entschuldigung heischend. Doch sind es nicht nur die heraufbeschworenen Peinlichkeiten: all das scheint uns wie ein Zauberbuch voller Toter und Vergessener. Die Geister der Vergangenheit bergen nicht mehr den vertrauten Schrecken, nur eine langsam verblassende Erinnerung daran. Ein Aufblitzen von Szenen, hart geschnittenen Fetzen: die Jagd nach den Untoten, den vermeintlichen Vampiren in langen Kellergängen, schließlich: die Enttäuschung in einer profanen, entzauberten Welt zu leben, sich in einer grauen Märchenlosigkeit nicht nur wiederzufinden; es war IMMER schon so, es war alles schon DA. Die Geister der Vergangenheit bieten keinen Schrecken mehr, nur eine langsam verschwindende Fotografie in unseren Köpfen: eine Reminiszenz an das ELEND anderer Tage.

[H wie Harpyie, Handicap, Hast. H wie H.]

Auf wundgescheuerten Knien der Gnade entgegenrutschend, den kalten Steinboden entlang. Zudringliche Gebete, aufdringliche Fürbitten vor sich hinflüsternd, in vermeintlicher Demut einen Segen erbettelnd. Und so ziehen die Jahre ins Land, so wandern die Tage dahin, so verstreichen die Stunden. Die steinernen Mauern gegen die nasse Wiese eintauschend, im Tau badend, sich am Boden wälzend, etwas Heiliges in der Erde suchend, den Boden aufwühlen, den Dreck quer durch die Gegend schleudernd. Das Kopftuch fester ziehen, den Mantel enger um den Körper legen, und weiterrutschen, immer der Gnade entgegen. Und so ziehen die Jahre ins Land, so wandern die Tage dahin, so verstreichen die Stunden. Bis im Regen die geflüsterten Worte so unerträglich geworden sind, daß ein Blitz der GNADE herabfährt, der kurz erleuchtet: aber eben nicht erlöst. Und alles was Glaube war, fließt aus ihr heraus, rinnt ihr die Schenkel herab, passiert die wundgescheuerten Knie und vermischt sich mit dem Regen, dem Tau, den geschmolzenen Schuhsohlen.

[I wie Indiz, Insekt, Ikonoklast. I wie I.]

Tag und Nacht vertauschen, sich endlich den Traum der VERKEHRTEN Existenz erfüllen und so NOCH WEITER vom herkömmlichen Leben Abschied nehmen. Seine Biographie einfach einpacken, ein ganzes Leben in eine Schachtel packen können, ein paar Hände schütteln, diesmal tatsächlich lächeln: auch mit den Augen: schließlich ist es doch das letzte verschwendete. Und dann die Uhren verdrehen, sich entfernen, und Zeit zwischen sich und den Rest stellen, eine unüberwindliche Spanne voller Schlaf UND Aktivität errichten. Danach weiter Reduktion betreiben: nicht nur die Kontakte; auch Essen, auch Schlaf. Sich mit gutem Gewissen dem Unmut hingeben können, der uns durch die Nacht treibt: eine beglückende Leere, die uns ausFÜLLT. Nicht mehr: nicht schlafen können, sondern auch nicht mehr schlafen müssen. Mit der träumenden Welt ein Arrangement treffen, sich mit anderen verwandten Seelen einigen. Der Weg ist nicht voller Scherben; da ist bloß KEIN Weg. Was aber auch keinen Unterschied macht, eine UMKEHR ist dann nicht mehr erwünscht.

[J wie Jive, Junta, Jux. J wie J.]

Locker gegen die Theke gelehnt, sich möglichst unverkrampft geben. Dann aber doch den Rücken zum Publikum wenden, sich gegen den andauernden FLEISCHbeschau sperren, sich den Blicken verwehren. Das mitgebrachte Notizbuch auf der kritisch beäugten Theke ausbreiten, blättern, die eingelegten Zettelsammlungen gut im Auge UND IM GLEICHGEWICHT behalten. Den Stift zücken, einen Schluck nehmen und nicht beobachten: schreiben, was fehlt. Sich den Blicken verwehren, Einblick in die Schrift verwehren, beharrlich den Stift über das Papier gleiten lassen, dabei versuchen, SINN zu machen. Eine geraume Zeit inmitten des Trubels seine Ruhe gefunden zu haben, bis schließlich die Sitznachbarin aufrückt, Neugier heuchelt. Doch ist es schon so spät, sind wir schon so verzweifelt, oder gar schon: so betrunken. Aufblicken, vielleicht für einen Moment, aber eben nur einen Moment: ERWÄGEN, ein Wort zu RICHTEN. Sich dann aber noch rechtzeitig dagegen entscheiden, entschlossen weiterschreiben. DENN wir wissen um die Konsequenzen, und manchmal ist es noch nicht so spät, sind wir noch nicht so verzweifelt oder betrunken genug. Ausharren, sich verweigern, weiter SINN machen: und ein bißchen verzweifeln.

[K wie Konkubine, Komplex, Kommando. K wie K.]

Man kann EINEM bei so schlechtem Wetter doch kein Credo abverlangen. Vor allem, wenn man nicht weiß wie das GEHT: ein Mensch sein. Aber dieser Umstand wird ihm nie schwer, wird ihm auch nie unangenehm. Er ist ein Gefäß voller Scherben und Schmerz: eine Urne. Doch wenn man über den Rand fährt, mit einem Finger nur: einem FEUCHTEN Finger, so entlockt man ihm keinen Ton mehr. Risse und Sprünge haben sich eingenistet, die Oberfläche wird poröser, Farbe blättert ab. Die Literatur ist keineswegs ein jämmerlicher Ersatz für das Leben, das Leben ist bloß eine miserable Vorgabe; Vorlage einer Gegenwart, die dazu tendiert, seine schlimmsten Erwartungen nicht bloß zu erfüllen: sondern auch zu ÜBERTREFFEN. Was dann noch zählt, fragt er sich hin und wieder. Kaum noch etwas, schließlich muß man nichts geleistet haben, um sterben zu können. Aber es fällt einem dann wohl LEICHTER. So sagt man. Der Regen fällt sehr langsam, seine Finger kleben an der Fensterscheibe, werden feucht. Langsam streicht er über seine Stirn, entlockt sich keinen Ton.

[L wie Linie, Lack, Lawine. L wie L.]

Eines Morgens regnete es Feuer und so wußte ich: den richtigen Zeitpunkt abgewartet zu haben um Dir mein pulsierendes Herz entgegenzuhalten. Dich zu bitten, dieses blutige Bündel anzunehmen, es wieder GESUND zu pflegen. Vom zwingenden Umstand zu berichten, die Unschuld zu verlieren; ABER: was heißt das schon. Keiner ist ohne Schuld. In unsere oberflächlichen Gespräche das WORT Blakes einbringen, es Dir donnernd entgegenschleudern, um Dich wachzurütteln: DIES schien mir der geeignetste Weg. Immer habe ich gehofft, daß es nicht notwendig wäre. Immer habe ich geglaubt, Dich auch anders erreichen zu können. Aber dann begriff ich: es bräuchte einen Vorschlaghammer gewaltigen Ausmaßes um mich verständlich zu machen, um Deine Aufmerksamkeit zu erringen, um mich Dir zu erklären. ABER: Du hast nie Blake gelesen: wie also sollst Du mich verstehen, wenn ich Dir versuche zu verdeutlichen: zwischen Feuer und Feuer, da bin ich, dort wandle ich dahin.

[M wie Mundstück, Marionette, Marter. M wie M.]

Bei der satanischen Eminenz eine Audienz haben. Brav auf dem Biedermeiersessel sitzen, warten, die Füße baumeln lassen. Vielleicht noch ein Blick in den imaginären Spiegel. Ist denn das Haar auch sauber gescheitelt, sind die Schuhe blank, sitzt der Knoten der Krawatte denn auch so wie er SOLL. Denn: Ihre Eminenz läßt nicht mit sich spaßen. Ist doch auch kein Vergnügen, zu Ihrer Eminenz in die Sprechstunde zu gehen und seine Seele zurückzufordern, JAWOHL zurückzufordern. Denn hierfür will man doch keine ganze Seele hergeben. Und dann auch noch für die - doch etwas unermeßliche zeitliche Ausdehnung einer - Ewigkeit. Eine halbe Ewigkeit, dafür könnte man sich noch erwärmen, darauf könnte man sich vielleicht gerade noch einigen. Aber besser noch: die Seele eines anderen eintauschen für dieses Leben. Oder besser noch: gegen das Leben eines anderen, eines DRITTEN, und nicht die eigene Seele. Nicht. Zu den eigenen Füßen blicken, die lederbeschuht über dem Boden baumeln, wenn auch die Socken unterschiedlicher Farbe sind: ein Ausdruck von Rebellion oder einem Substitut davon: die Schuhe sind es nicht. Und ob denn das Haar auch gescheitelt, die Schuhe auch blitzen und der Knoten auch sitzt. Denn: zum SPASSEN ist das nicht.

[N wie Narr, Nashorn, Nekrolog. N wie N.]

Wer hat in meinem Bettchen geschlafen, wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat das wirres Haar aus Deinem Gesicht gestrichen, Deine Wange berührt, Dein Schlüsselbein sanft geküßt UND warum will ich das alles jetzt gar nicht mehr wissen? Weil ich Deine Geheimnisse kenne, jetzt wo ich Dir so nahe bin; ich einen schalen Geschmack im Mund habe, von Deinen Liebkosungen, Deinem Fleisch. Jetzt, da ich Deine Geheimnisse kenne, die ich mit Dir zergliedert habe; nun da sich aus den Teilen eine neue Summe ergibt, die MEHR ist: als jemals zuvor. DENN: Dein getrocknetes Blut klebt unter meinen Fingernägeln; das sollte uns, so dachte ich, verbinden. Aber das muß Dir nicht mehr unangenehm sein, jetzt wo ich Dich in einen handlichen Sack packe, Dich schultere, Dich auf meinem Weg über die Dächer mitnehme. Den Blick nach oben gerichtet, wünsche ich mir, keine Sonne zu sein, obwohl: wenn das Universum schon nicht in BRAND zu stecken ist, vielleicht sollte man versuchen, es zu verschlingen. Trotzdem gehört meine Sympathie den Sternen: und dem MOND. Und während ich erwäge, ein neues Bettchen, ein neues Tellerchen, neue Haare, Wangen und ein Gesicht zu suchen, da heule ich den Mond an, so GUT es eben geht.

[O wie Oboe, Oblate, Omen. O wie O.]

In kleinen SPRECHanfällen läßt sie ein klein wenig von ihrer Welt in seine Wirklichkeit tröpfeln. Er wendet sich ihr zu, doch seine Gedanken sind nicht immer bei diesem Gespräch. Oft denkt er an den Menschen, der im STERBEN liegt, dieser Bitterkeit, der er sich bald anschließen wird. Dann denkt er wieder an das VERLASSEN sein, und an seinen Wecker, der irgendwo läutet. Er muß sich sammeln, sich konzentrieren, versuchen: JETZT zu sein. In die Stille, die PAUSE, drängt sich der Gedanke hinein: wie sie sich dreht, das Haar trägt sie offen, sie dreht sich, kreist um ihn. Die Wände sind dann nicht mehr so WEISS; sondern: in einem warmen, lebendigen Braunton. Warm und lebendig WIE ihr seltenes Lachen. Anstatt ihre Hand zu nehmen, bleibt es bei dem Gedanken. Später drängt sich auch in die Kälte des DRAUSSEN eine unheimliche Stille, in der eine Änderung noch möglich gewesen wäre, aber wie Duellanten drehen sie sich von einander weg, gehen los. Als er dann auf den Zug wartet, starrt er an die Wand des Tunnels. Dort wo Verputz und Beton abgefallen sind dringt das Erdreich in den sterilen Gang, und er möchte weinen. Und in einer Welt, die nicht weit genug entfernt ist: stirbt ein Mensch, wird er verlassen, läutet ein Wecker. Dann weint er ausgiebig.

[P wie Parsec, Pathos, Passage. P wie P.]

Sitzen auf Grabsteinen, wie die Totenvögel: kein Ort scheint so gemütlich und ruhig zu sein wie ein Friedhof. Die ideale Umgebung für ihn. Den Regen und die wenigen Besucher - die sich verstört abwenden - ignorierend, versucht er sich auf seine Lektüre zu konzentrieren: seinen John Webster, auch hier einen Ruhepol, ein passendes Gegenstück zur Lokalität. Sich mit Websters Figuren fragen, was die Toten wohl tun: ob sie wohl essen, Musik hören, ob sie JAGEN oder so glücklich wie die Lebenden sind. Da stutzt er kurz, denn wie glücklich können die Lebenden schon sein. Der Gedanke, glücklich zu sein, verwundert ihn zutiefst. Er schlingt den Mantel enger um sich, den Riß an der Schulter nicht WAHRHABEN wollend. Der Regen scheint heute schwerer zu fallen als sonst: SCHWERES WASSER, das da auf ihn herabprasselt. Der Siegelring, der die Hand lähmt; das Wasser, das langsam vom Stoff aufgesogen wird. Der Mantel wird wohl schwerer werden, denkt er bei sich. Die Lektüre wieder aufnehmen. Regentropfen, die auf die Buchseite klatschen, langsam wegwischen: die Toten schlafen. Beruhigend, denkt er sich, sehr beruhigend. Schlafen, aber dabei nicht glücklich sein müssen, sich nicht mit dem REST in einem Wettstreit des Glücks befinden. Und zufrieden schließt er das Buch und steigt vom Stein, legt sich auf das Grab davor, fühlt den Regen, schläft friedlich ein.

[Q wie Quäker, Qual, Quickstep. Q wie Q.]

Erschrocken, aber eigentlich nicht überrascht, denkt er bei sich: wie einsam er aussieht. So präsentiert es sich ihm beim Blick in den annähernd blinden Spiegel. Er erscheint sich selbst verzerrt, fast ein bißchen vage, vielleicht sogar verschwommen. Die gierige Einsamkeit, ein Dämon, der nach Bekanntschaften verlangt, die er ZERMALMEN kann. Denn der Dämon müßte sich sonst selbst zerfleischen, und so findet er sich eine passable Alternative. Ist uns erst einmal jemand NAHE, so ist es dem Dämon auch schon wieder zu nahe; und somit auch vollkommen wertlos. Denn in dem Maße in dem die Vorstellung gegen die Realität eingetauscht wird, überkommt ihn der Ekel und die Abscheu. Und gar nicht nur vor den Bekanntschaften, NEIN: vor allem vor ihm selbst, und dem Dämon, den er birgt. Die Einsamkeit ist ein Monster, das gefüttert werden will - das gefüttert werden muß. Die Bestie scheint Geschmack an seinem Leid gefunden zu haben, und so zehrt sie an ihm, höhlt ihn AUS. In einer Verzweiflungstat sich schließlich unter Mühen aufschlitzen, das Blut ignorieren, das Fleisch beiseite drängen: UND in sich hinein greifen. Die Einsamkeit aus sich herauszerren, ihr ins gierige Angesicht starren und erschrocken sein, das eigene Gesicht darin wiederzufinden. Erschrocken, aber eigentlich: nicht überrascht.

[R wie Reprise, Rhizom, Renegat. R wie R.]

Während er versucht, es sich in dem großen Sessel bequem zu machen, kommt er nicht umhin sich zurück an sein Wohnzimmerfenster zu sehnen. Um dort nichts zu tun, für einen Moment sogar die ZEIT anhalten zu können, dann: das Treiben der Schneeflocken zu beobachten, sich mit dieser Idylle ein wenig quälen. Doch der Gedanke kann nicht lange halten, DENN die Schönheit tänzelt über eine Bühne, doch der zuerst so sicher gesetzte Schritt weicht einem Stolpern, fast zwangsläufig. Hier drängt sich der notwendige Makel in die glatte Oberfläche, die Schönheit ist für ihn nicht nur schwer, sie ist für ihn gar nicht zu fassen, sie entzieht sich ihm. In ihrer Flüchtigkeit scheint sie nicht mehr zu existieren, so scheint es ihm, als er in seinem Sitz herumrutscht, denn der Plüsch kratzt am nackten Rücken, am wunden Hals. Ein nahezu aufgezehrter Bestand an erträglichen Dingen, vielleicht sogar an schönen Dingen, sollen ihm geboten werden: die unschuldige, die PERFEKTE Seele; so denkt er bei sich, muß sie denn auch schön sein, und er denkt an die Rosen die er hinabwarf, und an die Erde und die Schaufel die folgten. Da hat er dann auch schon seine Antwort, bloß ZUFRIEDEN ist er damit nicht, und das soll und kann er auch nicht sein. Die schlafende Prinzessin auf der Bühne ist für ihn aufgebahrt, nicht aufgebettet; und ihre Lippen scheinen ihr gesamtes Gesicht zu teilen, sich seufzend teilend geben sie nicht nur eine Wunde frei: ein ganzer ABGRUND liegt da vor ihm. Der angeblich belebende Kuß löst die Schlafende einfach auf, und der Zerfall nimmt kein Ende mehr, denn schwere Flocken fallen von der Decke, und Bühne und Saal leeren sich. Währenddessen bleibt er einfach sitzen, läßt sich vom fallenden Schnee bedecken UND sehnt sich ein bißchen.

[S wie Sermon, Sequel, Sepultur. S wie S.]

In der engen Dunkelkammer der Phantasie muß man sich fragen: was gebiert sie; oder BESSER: wer wird dort geboren. Aber keine endgültige Antwort stellt sich ein. Zumeist nicht einmal: eine Frage. Da hinter ihm liegt das Fleisch in Fetzen. Er hat sich durchgewühlt, liegt nun frierend und elend auf dem schmutzigen Boden. Beinahe erdrosselt saugt er die chemiegeschwängerte Luft gierig ein: und sie scheint ihm besser als MILCH. Mit dem Atem kommt auch die Idee, und er überlegt, ob das SO klug war. Mit dem Leben gezeugt empfindet er sich für den Tod produziert, und ob ihm dieses Leben als Versprechen gelten dürfe, ist ihm noch nicht klar. Ob es ein Gelöbnis wäre, ein Möglichkeit der Besserung - oder gar: der ERLÖSUNG. Dies alles muß zusehends schwinden, ihm als Medizin, auch als Gift erscheinen, das langsam in ihn eingeträufelt wurde. Das trübe Licht, das sich durch schmutzige und zerbrochene Scheiben hereinschleicht, ihm eine elende Umarmung bietet: es ist ihm kein Trost. Auch nicht das kleine Viereck Sonnenlicht: doch scheint es ihm der beste Weg, darin zu baden, dort zu verlöschen; UND dem Leben zuvor zu kommen. Und im Viereck krümmt sich der Wurm, kehrt sein Innerstes hervor, gebiert durch spröde Rippen sich selbst neu. Doch er erhält keine Antwort; selbst wenn er eine Frage hätte stellen wollen.

[T wie Tektonik, Trias, Teichoskopie. T wie T.]

Die Schwellung über ihrem Auge betastend, SO sieht sie aus dem Fenster des Abteils, versucht sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Doch weiterhin die Schwellung berührend, immer gerade leicht genug um nicht zusammenzuzucken, erinnert sie sich an den letzen Kampf; und die Landschaft tritt zurück, verschwindet einfach. Sie erinnert sich an das Gefühl der bandagierten Finger, der schweren Handschuhe. Das Glas der Scheibe ist kühl - nein: es ist KALT, es ist angenehm, die Stirn darauf zu pressen, durch die Bandagen hindurch die Kälte auf sich einwirken lassen. Und sie erinnert sich an das Ächzen der Seile, das darauf folgende Aufeinanderprallen der Körper, die dumpfen Geräusche, die sicheren Bewegungen. Sich umkreisen, stumm, wie verzweifelte Liebende: ZÄRTLICHKEITEN austauschen. Täuschen und dann dort zuschlagen, wo es nicht vermutet wird: hellen, gleißenden Schmerz zufügen. Dabei immer danach fragen müssen, wie sehr man den Schmerz wohl steigern kann. Was dem anderen - und vor allem: uns selbst - zumutbar ist. Ein ständiges Haschen nach flüchtigen Schwächen, dabei: AUSWEICHEN. Um nicht die eigene Zuneigung, das eigene Verfehlen nachgewiesen zu bekommen. Sich hüten, sich fragen: womit habe ich das verdient, womit werde ich das verdienen, und auch DAS. Sie reibt immer noch an ihrer Schwellung, nur der Schmerz bleibt; die Landschaft zieht weiter, zumindest außer Sichtweite.

[U wie Unkenrufe, Unruhe, Unikum. U wie U.]

Nachdem sie eingeschlafen ist, liegt er noch lange wach und stellt sich vor: WIE es wäre, wenn sie für ihn tot sein könnte. Ob sie dann auch für den Rest tot sein müßte, oder ob es wirklich ausreichen könnte, wenn sie einfach nur aus seinem Leben herausfallen würde; aber: in seiner Erinnerung zu verweilen, sich von ihm umformen zu lassen. Vielleicht das Haar wachsen zu lassen, ihm einen Blick auf ihr Herz gewähren; es ihm gelegentlich sogar in die Hand zu geben, damit er es genau betrachten kann, seine Kammern nach und nach erforschen - und irgendwann BEGREIFEN - zu können. Ob er darin eine Seele vorfinden könnte, fragt er sich, oder ob dieses Herz auch nur die vertraute LEERE enthält. Das fahle Licht der Nacht verwandelt sie in eine Schönheit, die er nie in ihr gesehen, ihr nie zugetraut hatte. In seiner Brust breitet sich ein unangenehmer Schmerz aus: ein Gefühl. Wie es wäre, wenn er für sie tot sein könnte, ob er dann auch für den Rest tot sein müßte, denkt er bei sich, den Mond verwünschend. Doch dann scheint sie ihm zuvorzukommen, denn er STIRBT: und auch in ihrer Erinnerung bleibt er nicht, sie hat ihn VERGESSEN, endgültig.

[V wie Variante, Venus, Ventil. V wie V.]

Obwohl er immer auf der Flucht bleiben muß, schafft er es nicht, sie zu verfluchen, sie einfach aus sich zu verbannen. Der Schmerz über dem Lindenblatt wird bei ihrem Anblick unerträglich, er muß sich den Rücken FREI halten und auf der Hut sein, denn: er weiß um sein Lindenblatt und NATÜRLICH weiß sie es auch, hat sie es ihm doch dorthin geklebt. Er erinnert sich dunkel an diese Nacht, und er vermutet, daß auch das Blut von tausend Drachen ihn nicht stärker machen, seinen Makel nicht wegwaschen kann. Und er hat es mehrmals versucht: sich in Badewannen voll Blut wälzend, betend, hoffend, sich schließlich auch von dieser Schwäche befreit zu sehen: aber vergebens. Sich verbergen, ein Stück weiterhasten, die Tasche gegen die Brust gedrückt, aber sie ist nur ein ungenügender Schutzschild: das war sie schon immer. Einen Blick um die nächste Ecke werfen, ganz routinemäßig und ihr trotzdem in die Arme laufen und sie ansehen; all die oberflächlichen Gemeinheiten abspulen, die er sich zurechtgelegt hatte und auf welche er nie: NIE zurückgreifen wollte. Er wundert sich über seine Ausdrucksweise, ganz speziell ihr gegenüber, und noch während des Sprechens bastelt er sich eine Rechtfertigung hierfür zusammen; diese wird er später brauchen, er wird sie BITTER nötig haben. Und sie hasten weiter, die Münder noch aufgerissen und einander beinahe berührend, da erst spürt er seine Verletzung und sieht an sich herab, verflucht das Lindenblatt und sich selbst.

[W wie Walküre, Wallstreet, WYSIWYG. W wie W.]

Mit dem Verlust des letzten Gedankens an dem er sich wärmen konnte, beschloß er, daß er sich in dieser Situation auf die Bilder zu konzentrieren habe, die ihm das Kino bot. In seinen nun einsetzenden Besuchen entwickelte er eine Abneigung gegen jede Form der Geschichte, schließlich waren ihm auch die Dialoge zuviel. Im Versuch aus den jeweiligen Bilderfetzen einen neuen, ihm Sinn verleihenden Gedanken zu destillieren, brachte er Wochen in der Bequemlichkeit der Dunkelheit zu. Doch der Gedanke der SICHERHEIT und des WOHLBEFINDES wollte sich einfach nicht einstellen, einzig in lange Stoffbahnen gehülltes UNGLÜCK blieb ihm im Gedächtnis: und das reichte nicht aus. So legte er sich einen Plan zurecht, den er dann auch ausführte: ZUERST kaufte er weiterhin die Karten zu den Filmen, betrat den Saal aber nicht mehr, DANN kaufte er weiterhin die Zeitung um sich über die Vorstellungen zu informieren und begnügte sich mit der Vorstellung, eine Karte erworben zu haben. ZULETZT saß er zu Hause und spekulierte über das Programm, das sich in der Zeitung finden würde, hätte er eine. ZULETZT saß er zu Hause auf einem großen Stapel Kinokarten, ritzt sich mit dem feinen Papier tiefe Schnitte in sein graues Fleisch, suchte in den blutigen Spuren eine kleine Prise Sinn. Frierend, denn weder Sicherheit noch Wohlbefinden wollten ihn in seiner Wohnung aufsuchen, zündete er den Kartenhaufen an: und während er Feuer fing und langsam verbrannte, wärmte es ihn kein bißchen.

[X wie Xi, Xenobiose, Xoanon. X wie X.]

Den müden Blick des Wartenden auf die Uhr an der Wand geheftet, kommt er doch nicht umhin, die Putzfrau zu bemerken, die ihre Runden durch diesen Teil des Gebäudes dreht. Wie der Befehlshaber einer verlorenen Armee schreitet sie die Reihen der Hoffnungslosen vor den Krankenzimmern ab, und wo immer einer in sich zusammenstürzt, ist sie zur Stelle. Was dann noch übrig ist, besieht sie sich, kehrt sie fein säuberlich auf eine Schaufel. Sind die wartenden Überreste Mensch vollständig wegkehrt und in den dafür vorgesehenen Behälter gefüllt, läuft sie weiter. Er wendet sich von diesem Aasgeier der Hygiene ab, richtet seinen Blick wieder auf die Uhr, ungeduldig, denn er will um seinen Zwilling wissen, er will es GESAGT bekommen, obwohl er es bereits spüren kann. Unfreiwillig muß er zu dem grauen Behälter blicken: in dem sich die Menschen bereits häufen, aber es ist immer noch genug Platz für einen mehr, einer mehr geht IMMER noch. Er merkt das Brechen, erst ein kleiner Knick, dann ein Sprung: quer über die Brust, gefolgt von einem Knacken, das seinen Sitznachbarn aufschrecken und von ihm abrücken läßt. Er will doch noch Gewissheit gesagt bekommen, er will die Wahrheit, aber sein sterbender Zwilling verweigert ihm auch dies. Er kann sich zerbrechen hören, sieht sich in Scherben gehen und Besen und Schaufel über sich schweben. Fein säuberlich kehrt sie ihn zusammen und leert ihn dann weg.

[Y wie Yeoman, Ytong, Yen. Y wie Y.]

Heute will er sein Testament erstellten, und er setzt es tatsächlich auf, so wie er sonst sein Teewasser aufsetzen würde, mit einer Geste der Beliebigkeit. Er schreibt, wenn Wasser und Leben aus ihm heraussprudeln sollten, was sich dann abspielen möge. Und wer was zum Spielen bekäme. Und bei diesem Vorgang, will er eben auch eine Inventur seiner selbst aufstellen. Er schreibt, kommt aber nicht umhin zu bemerken, nur ein ERBÄRMLICH kurzes Schriftstück zusammengeschmiert zu haben; weil er bar jeder Gefühle ist, NUN bar jeder Gefühle ist. Er fühlt sich ausgeliebt und denkt an das Treffen zurück, bei dem er in ihrem Gesicht las, sie sich um die wirklich wichtigen Themen herumdrückten, sie AUSSPARTEN, und er sich bewußt wurde, daß er einfach vergessen hatte, warum er sie hätte lieben sollen. Was es einst gewesen war, und er sich leer fühlte und ausgeliebt und AUS. Dann will er weiterschreiben, doch er ist ja schon am ENDE angekommen, und dann versteht er den wahren Sinn der Testamente. Mit seinem Testament wird sich auch sein jämmerlicher Rest zerstreuen, sich mit der Verteilung seiner vermachten Vergänglichkeiten einfach aufzulösen. DAS scheint ihm eine gute Lösung zu sein, eine geeignete. Er geht zur Post und gibt das Testament auf: und anschließend sich selbst.

[Z wie Zeugma, Zitadelle, Zitat. Z wie Z.]

Ursprünglich wollte ich mich einfach KAPUTTMACHEN; auf eine endgültige Vernichtung, Auslöschung und ein Verschwinden abzielend. Aber das sollte nicht über einen Rückzug, eine diskrete Aktion des Aufgehens im Vergehen funktionieren. Statt dessen wollte ich das Leben, das doch eher aus meiner Realität ausgeklammert dahingegangen war, in tiefen Zügen einzuatmen, mich mit Leben ertränken. Aber nicht das eigene Leben: da war schon zu wenig Leben um zu atmen, um auszukommen. Selbst bei strengster Rationierung würde diese Gegebenheit nicht ausreichen, konnte einfach nicht genug sein. Und der Wunsch sich eine MASCHINE zu schaffen - zum Ausgleich WOFÜR - wurde stärker, nur übertroffen vom Wunsch: selbst eine Maschine zu sein. Mehr und mehr begann ich mich abzuspulen, in dieser Maschine meines Geistes, meinem HÖLLENVERSTÄRKER, aufzugehen. Aus der erwünschten Verdichtung, dem Rückzug, wurde eine VERschreibung, eine Verwandlung: eine SCHREIBmaschine blieb dann dort, wo ich einst gewesen war. SCHÖN.

[A wie Z wie der Rest wie ALLES und NICHT wie SCHLUSS und doch WEITER.]

Thomas Ballhausen © 2000 - 2001

ch schon Deine dreckige Wahrheit, da hat meine doch keinen Platz mehr. Das interessiert doch niemanden: die Wahrheit.
Mitleid? Ich kann das nicht mehr, mitleiden. Aber leiden. Danke, ich leide bestens, ich leide ganz ausgezeichnet. Nur Dich nicht, Dich kann ich nicht leiden, nicht MEHR. Und ES IST, es WAR gut so, und darum Zug um Zug, Prinzessin um Prinzessin und PUNKT. Auflegen.

[B wie B-52s, benutzerdefiniert, beziehungsweise. B wie B.]

Am späten Nachmittag erwachend, merke ich, daß Deine Seite des Bettes erneut leer geblieben ist. Ich schließe nochmals die Augen, zähle bis TAUSEND, dann erst stehe ich auf. Die Katze streicht um meine Beine, während ich das Teewasser aufstelle, kratzt mich, nachdem ich sie gefüttert habe. Frühstück, Badezimmer, der obligate Blick in den Spiegel, doch ich erkenne mich nicht. Schuhe, Jacke, eine Sonnenbrille, "DENN DIE ZUKUNFT IST GRELL, SO GRELL", daß... Noch ein Blick in den Spiegel, doch ich komme mir noch immer nicht bekannt vor. Die Tür schließen, den Aufzug rufen, doch das Schild tobt mich an: AUSSER BETRIEB; und dann macht für einen Moment alles Sinn.

[C wie Cäsarenlob, Chimäre, Chrom. C wie C.]

Na, Sueton, das hättest Du Dir alles nicht träumen lassen. Und trotz des Messers in meiner Seite wirst Du keine Zeile an mich verschwenden. Natürlich nicht. Nicht ob dieser Geisterbeschwörung, nicht ob all dieser Beleidigungen. Aber wenn Du Dich jetzt schon attackiert fühlst, so SEI GEWARNT; denn: ich habe noch nicht angefangen. Wie könnte ich auch anders, sind doch die Tore in die Unterwelt so weit offen, ständig, so sagt man. Und nur der Aufstieg aus dieser Unterwelt ist lang und beschwerlich - nicht wahr, Johnny Milton? Die Hölle verschlingt mich, doch sie verdaut mich nicht. Aber die Engel bleiben aus, am Ende bleiben die Engel immer aus. Tragisch, tragisch - nicht wahr, Johnny Milton?

[D wie Distanz, Dekonstruktion, Diaphragma. D wie D.]

Wir starren aneinander vorbei, die gute Dame und ich. Langsam wird der Tee kalt, seine Wärme vergeht, löst sich auf. Vorsichtig schiebe ich eine der Figuren zwei Felder weiter, deute einen Ausfall an. Sofort: die Blockade, der drohende Gegenschlag einer ALLESVERNICHTENDEN Springer-Läufer-Kombination. Zuviel Film, denke ich bei mir, und warte weiter. Wir starren einander an, die gute Dame und ich. Aber nur kurz. Dann wird der Blick wieder auf das Brett geheftet. Eine Dame zuviel; so kann ich einfach nicht mehr gewinnen. Der Kopf des Königs poltert, als er aufschlägt.

[E wie Ekel, Erinnye, Eskapade. E wie E.]

Gut vorbereitet begebe ich mich zum Treffpunkt, heute abend habe ich ein Date mit Euklid, mit EUKLID. In meiner Aktentasche: streng gemusterte Papiere: streng gestreift: liniert, streng kariert: möglichst kleinkariert. Und während ich so dahineile, frage ich mich, ob denn Zeichnungen da überhaupt Platz haben, da überhaupt noch PLATZ haben werden. Und wie ist es erst mit der Schrift; mal groß, mal klein, mal zu klein. Aber Schrift ist keine Frage der Größe, Format ist keine Frage der Größe, der Länge, des Umfangs. Aber da sind ja auch die Papiere mit dem Korrekturrand, mit dem wunderbar roten Korrekturrand, für die richtige Schrift, die berichtigende Schrift, die korrekte, NEINNEIN: die korrigierende Schrift. Ob dieser Bedrohung laufe ich, die Papiere ausstreuend, laut heulend zurück. Euklid kann mir gestohlen bleiben, der Korrektor, der.

[F wie Feier, Fanatismus, Flamme. F wie F.]

Oh, und wie wir SPASS haben. Und Spaß und Spaß und SPASS. Besonders wenn wir uns karnevalesk geben möchten, ein klein wenig zu viel getrunken haben, um so leichter fällt es uns dann. Alles. Und als gute Karnevalsaktivisten drehen wir die Welt so richtig um, so gehörig, daß der Welt alles vergeht. Wir drehen um und um, wenden, bis alles aus ihr herausfällt, alles auseinanderfällt. Und wenn wir dann auf unseren Herrinnen dahinreiten wird uns aber nach und nach bewußt, wie sehr wir einander anekeln, wie sehr wir die anderen anekeln müssen, und so kann es - Karneval hin und her, um und um - so etwas wie ein GLÜCKLICHES ENDE dann eben doch nicht geben. Und wir können uns dabei wenden, uns drehen, um und um. Aber so gehörig wir uns auch ausschütten, uns vergeht dann alles so richtig, bis wir auseinander fallen.

[G wie Globus, Glutamat, Gier. G wie G.]

Schüchtern im Fotoalbum, im VERHASSTEN, verstaubten Fotoalbum blättern. Mit schüchternen Blicken und hilflosen Gesten um Entschuldigung heischend. Doch sind es nicht nur die heraufbeschworenen Peinlichkeiten: all das scheint uns wie ein Zauberbuch voller Toter und Vergessener. Die Geister der Vergangenheit bergen nicht mehr den vertrauten Schrecken, nur eine langsam verblassende Erinnerung daran. Ein Aufblitzen von Szenen, hart geschnittenen Fetzen: die Jagd nach den Untoten, den vermeintlichen Vampiren in langen Kellergängen, schließlich: die Enttäuschung in einer profanen, entzauberten Welt zu leben, sich in einer grauen Märchenlosigkeit nicht nur wiederzufinden; es war IMMER schon so, es war alles schon DA. Die Geister der Vergangenheit bieten keinen Schrecken mehr, nur eine langsam verschwindende Fotografie in unseren Köpfen: eine Reminiszenz an das ELEND anderer Tage.

[H wie Harpyie, Handicap, Hast. H wie H.]

Auf wundgescheuerten Knien der Gnade entgegenrutschend, den kalten Steinboden entlang. Zudringliche Gebete, aufdringliche Fürbitten vor sich hinflüsternd, in vermeintlicher Demut einen Segen erbettelnd. Und so ziehen die Jahre ins Land, so wandern die Tage dahin, so verstreichen die Stunden. Die steinernen Mauern gegen die nasse Wiese eintauschend, im Tau badend, sich am Boden wälzend, etwas Heiliges in der Erde suchend, den Boden aufwühlen, den Dreck quer durch die Gegend schleudernd. Das Kopftuch fester ziehen, den Mantel enger um den Körper legen, und weiterrutschen, immer der Gnade entgegen. Und so ziehen die Jahre ins Land, so wandern die Tage dahin, so verstreichen die Stunden. Bis im Regen die geflüsterten Worte so unerträglich geworden sind, daß ein Blitz der GNADE herabfährt, der kurz erleuchtet: aber eben nicht erlöst. Und alles was Glaube war, fließt aus ihr heraus, rinnt ihr die Schenkel herab, passiert die wundgescheuerten Knie und vermischt sich mit dem Regen, dem Tau, den geschmolzenen Schuhsohlen.

[I wie Indiz, Insekt, Ikonoklast. I wie I.]

Tag und Nacht vertauschen, sich endlich den Traum der VERKEHRTEN Existenz erfüllen und so NOCH WEITER vom herkömmlichen Leben Abschied nehmen. Seine Biographie einfach einpacken, ein ganzes Leben in eine Schachtel packen können, ein paar Hände schütteln, diesmal tatsächlich lächeln: auch mit den Augen: schließlich ist es doch das letzte verschwendete. Und dann die Uhren verdrehen, sich entfernen, und Zeit zwischen sich und den Rest stellen, eine unüberwindliche Spanne voller Schlaf UND Aktivität errichten. Danach weiter Reduktion betreiben: nicht nur die Kontakte; auch Essen, auch Schlaf. Sich mit gutem Gewissen dem Unmut hingeben können, der uns durch die Nacht treibt: eine beglückende Leere, die uns ausFÜLLT. Nicht mehr: nicht schlafen können, sondern auch nicht mehr schlafen müssen. Mit der träumenden Welt ein Arrangement treffen, sich mit anderen verwandten Seelen einigen. Der Weg ist nicht voller Scherben; da ist bloß KEIN Weg. Was aber auch keinen Unterschied macht, eine UMKEHR ist dann nicht mehr erwünscht.

[J wie Jive, Junta, Jux. J wie J.]

Locker gegen die Theke gelehnt, sich möglichst unverkrampft geben. Dann aber doch den Rücken zum Publikum wenden, sich gegen den andauernden FLEISCHbeschau sperren, sich den Blicken verwehren. Das mitgebrachte Notizbuch auf der kritisch beäugten Theke ausbreiten, blättern, die eingelegten Zettelsammlungen gut im Auge UND IM GLEICHGEWICHT behalten. Den Stift zücken, einen Schluck nehmen und nicht beobachten: schreiben, was fehlt. Sich den Blicken verwehren, Einblick in die Schrift verwehren, beharrlich den Stift über das Papier gleiten lassen, dabei versuchen, SINN zu machen. Eine geraume Zeit inmitten des Trubels seine Ruhe gefunden zu haben, bis schließlich die Sitznachbarin aufrückt, Neugier heuchelt. Doch ist es schon so spät, sind wir schon so verzweifelt, oder gar schon: so betrunken. Aufblicken, vielleicht für einen Moment, aber eben nur einen Moment: ERWÄGEN, ein Wort zu RICHTEN. Sich dann aber noch rechtzeitig dagegen entscheiden, entschlossen weiterschreiben. DENN wir wissen um die Konsequenzen, und manchmal ist es noch nicht so spät, sind wir noch nicht so verzweifelt oder betrunken genug. Ausharren, sich verweigern, weiter SINN machen: und ein bißchen verzweifeln.

[K wie Konkubine, Komplex, Kommando. K wie K.]

Man kann EINEM bei so schlechtem Wetter doch kein Credo abverlangen. Vor allem, wenn man nicht weiß wie das GEHT: ein Mensch sein. Aber dieser Umstand wird ihm nie schwer, wird ihm auch nie unangenehm. Er ist ein Gefäß voller Scherben und Schmerz: eine Urne. Doch wenn man über den Rand fährt, mit einem Finger nur: einem FEUCHTEN Finger, so entlockt man ihm keinen Ton mehr. Risse und Sprünge haben sich eingenistet, die Oberfläche wird poröser, Farbe blättert ab. Die Literatur ist keineswegs ein jämmerlicher Ersatz für das Leben, das Leben ist bloß eine miserable Vorgabe; Vorlage einer Gegenwart, die dazu tendiert, seine schlimmsten Erwartungen nicht bloß zu erfüllen: sondern auch zu ÜBERTREFFEN. Was dann noch zählt, fragt er sich hin und wieder. Kaum noch etwas, schließlich muß man nichts geleistet haben, um sterben zu können. Aber es fällt einem dann wohl LEICHTER. So sagt man. Der Regen fällt sehr langsam, seine Finger kleben an der Fensterscheibe, werden feucht. Langsam streicht er über seine Stirn, entlockt sich keinen Ton.

[L wie Linie, Lack, Lawine. L wie L.]

Eines Morgens regnete es Feuer und so wußte ich: den richtigen Zeitpunkt abgewartet zu haben um Dir mein pulsierendes Herz entgegenzuhalten. Dich zu bitten, dieses blutige Bündel anzunehmen, es wieder GESUND zu pflegen. Vom zwingenden Umstand zu berichten, die Unschuld zu verlieren; ABER: was heißt das schon. Keiner ist ohne Schuld. In unsere oberflächlichen Gespräche das WORT Blakes einbringen, es Dir donnernd entgegenschleudern, um Dich wachzurütteln: DIES schien mir der geeignetste Weg. Immer habe ich gehofft, daß es nicht notwendig wäre. Immer habe ich geglaubt, Dich auch anders erreichen zu können. Aber dann begriff ich: es bräuchte einen Vorschlaghammer gewaltigen Ausmaßes um mich verständlich zu machen, um Deine Aufmerksamkeit zu erringen, um mich Dir zu erklären. ABER: Du hast nie Blake gelesen: wie also sollst Du mich verstehen, wenn ich Dir versuche zu verdeutlichen: zwischen Feuer und Feuer, da bin ich, dort wandle ich dahin.

[M wie Mundstück, Marionette, Marter. M wie M.]

Bei der satanischen Eminenz eine Audienz haben. Brav auf dem Biedermeiersessel sitzen, warten, die Füße baumeln lassen. Vielleicht noch ein Blick in den imaginären Spiegel. Ist denn das Haar auch sauber gescheitelt, sind die Schuhe blank, sitzt der Knoten der Krawatte denn auch so wie er SOLL. Denn: Ihre Eminenz läßt nicht mit sich spaßen. Ist doch auch kein Vergnügen, zu Ihrer Eminenz in die Sprechstunde zu gehen und seine Seele zurückzufordern, JAWOHL zurückzufordern. Denn hierfür will man doch keine ganze Seele hergeben. Und dann auch noch für die - doch etwas unermeßliche zeitliche Ausdehnung einer - Ewigkeit. Eine halbe Ewigkeit, dafür könnte man sich noch erwärmen, darauf könnte man sich vielleicht gerade noch einigen. Aber besser noch: die Seele eines anderen eintauschen für dieses Leben. Oder besser noch: gegen das Leben eines anderen, eines DRITTEN, und nicht die eigene Seele. Nicht. Zu den eigenen Füßen blicken, die lederbeschuht über dem Boden baumeln, wenn auch die Socken unterschiedlicher Farbe sind: ein Ausdruck von Rebellion oder einem Substitut davon: die Schuhe sind es nicht. Und ob denn das Haar auch gescheitelt, die Schuhe auch blitzen und der Knoten auch sitzt. Denn: zum SPASSEN ist das nicht.

[N wie Narr, Nashorn, Nekrolog. N wie N.]

Wer hat in meinem Bettchen geschlafen, wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat das wirres Haar aus Deinem Gesicht gestrichen, Deine Wange berührt, Dein Schlüsselbein sanft geküßt UND warum will ich das alles jetzt gar nicht mehr wissen? Weil ich Deine Geheimnisse kenne, jetzt wo ich Dir so nahe bin; ich einen schalen Geschmack im Mund habe, von Deinen Liebkosungen, Deinem Fleisch. Jetzt, da ich Deine Geheimnisse kenne, die ich mit Dir zergliedert habe; nun da sich aus den Teilen eine neue Summe ergibt, die MEHR ist: als jemals zuvor. DENN: Dein getrocknetes Blut klebt unter meinen Fingernägeln; das sollte uns, so dachte ich, verbinden. Aber das muß Dir nicht mehr unangenehm sein, jetzt wo ich Dich in einen handlichen Sack packe, Dich schultere, Dich auf meinem Weg über die Dächer mitnehme. Den Blick nach oben gerichtet, wünsche ich mir, keine Sonne zu sein, obwohl: wenn das Universum schon nicht in BRAND zu stecken ist, vielleicht sollte man versuchen, es zu verschlingen. Trotzdem gehört meine Sympathie den Sternen: und dem MOND. Und während ich erwäge, ein neues Bettchen, ein neues Tellerchen, neue Haare, Wangen und ein Gesicht zu suchen, da heule ich den Mond an, so GUT es eben geht.

[O wie Oboe, Oblate, Omen. O wie O.]

In kleinen SPRECHanfällen läßt sie ein klein wenig von ihrer Welt in seine Wirklichkeit tröpfeln. Er wendet sich ihr zu, doch seine Gedanken sind nicht immer bei diesem Gespräch. Oft denkt er an den Menschen, der im STERBEN liegt, dieser Bitterkeit, der er sich bald anschließen wird. Dann denkt er wieder an das VERLASSEN sein, und an seinen Wecker, der irgendwo läutet. Er muß sich sammeln, sich konzentrieren, versuchen: JETZT zu sein. In die Stille, die PAUSE, drängt sich der Gedanke hinein: wie sie sich dreht, das Haar trägt sie offen, sie dreht sich, kreist um ihn. Die Wände sind dann nicht mehr so WEISS; sondern: in einem warmen, lebendigen Braunton. Warm und lebendig WIE ihr seltenes Lachen. Anstatt ihre Hand zu nehmen, bleibt es bei dem Gedanken. Später drängt sich auch in die Kälte des DRAUSSEN eine unheimliche Stille, in der eine Änderung noch möglich gewesen wäre, aber wie Duellanten drehen sie sich von einander weg, gehen los. Als er dann auf den Zug wartet, starrt er an die Wand des Tunnels. Dort wo Verputz und Beton abgefallen sind dringt das Erdreich in den sterilen Gang, und er möchte weinen. Und in einer Welt, die nicht weit genug entfernt ist: stirbt ein Mensch, wird er verlassen, läutet ein Wecker. Dann weint er ausgiebig.

[P wie Parsec, Pathos, Passage. P wie P.]

Sitzen auf Grabsteinen, wie die Totenvögel: kein Ort scheint so gemütlich und ruhig zu sein wie ein Friedhof. Die ideale Umgebung für ihn. Den Regen und die wenigen Besucher - die sich verstört abwenden - ignorierend, versucht er sich auf seine Lektüre zu konzentrieren: seinen John Webster, auch hier einen Ruhepol, ein passendes Gegenstück zur Lokalität. Sich mit Websters Figuren fragen, was die Toten wohl tun: ob sie wohl essen, Musik hören, ob sie JAGEN oder so glücklich wie die Lebenden sind. Da stutzt er kurz, denn wie glücklich können die Lebenden schon sein. Der Gedanke, glücklich zu sein, verwundert ihn zutiefst. Er schlingt den Mantel enger um sich, den Riß an der Schulter nicht WAHRHABEN wollend. Der Regen scheint heute schwerer zu fallen als sonst: SCHWERES WASSER, das da auf ihn herabprasselt. Der Siegelring, der die Hand lähmt; das Wasser, das langsam vom Stoff aufgesogen wird. Der Mantel wird wohl schwerer werden, denkt er bei sich. Die Lektüre wieder aufnehmen. Regentropfen, die auf die Buchseite klatschen, langsam wegwischen: die Toten schlafen. Beruhigend, denkt er sich, sehr beruhigend. Schlafen, aber dabei nicht glücklich sein müssen, sich nicht mit dem REST in einem Wettstreit des Glücks befinden. Und zufrieden schließt er das Buch und steigt vom Stein, legt sich auf das Grab davor, fühlt den Regen, schläft friedlich ein.

[Q wie Quäker, Qual, Quickstep. Q wie Q.]

Erschrocken, aber eigentlich nicht überrascht, denkt er bei sich: wie einsam er aussieht. So präsentiert es sich ihm beim Blick in den annähernd blinden Spiegel. Er erscheint sich selbst verzerrt, fast ein bißchen vage, vielleicht sogar verschwommen. Die gierige Einsamkeit, ein Dämon, der nach Bekanntschaften verlangt, die er ZERMALMEN kann. Denn der Dämon müßte sich sonst selbst zerfleischen, und so findet er sich eine passable Alternative. Ist uns erst einmal jemand NAHE, so ist es dem Dämon auch schon wieder zu nahe; und somit auch vollkommen wertlos. Denn in dem Maße in dem die Vorstellung gegen die Realität eingetauscht wird, überkommt ihn der Ekel und die Abscheu. Und gar nicht nur vor den Bekanntschaften, NEIN: vor allem vor ihm selbst, und dem Dämon, den er birgt. Die Einsamkeit ist ein Monster, das gefüttert werden will - das gefüttert werden muß. Die Bestie scheint Geschmack an seinem Leid gefunden zu haben, und so zehrt sie an ihm, höhlt ihn AUS. In einer Verzweiflungstat sich schließlich unter Mühen aufschlitzen, das Blut ignorieren, das Fleisch beiseite drängen: UND in sich hinein greifen. Die Einsamkeit aus sich herauszerren, ihr ins gierige Angesicht starren und erschrocken sein, das eigene Gesicht darin wiederzufinden. Erschrocken, aber eigentlich: nicht überrascht.

[R wie Reprise, Rhizom, Renegat. R wie R.]

Während er versucht, es sich in dem großen Sessel bequem zu machen, kommt er nicht umhin sich zurück an sein Wohnzimmerfenster zu sehnen. Um dort nichts zu tun, für einen Moment sogar die ZEIT anhalten zu können, dann: das Treiben der Schneeflocken zu beobachten, sich mit dieser Idylle ein wenig quälen. Doch der Gedanke kann nicht lange halten, DENN die Schönheit tänzelt über eine Bühne, doch der zuerst so sicher gesetzte Schritt weicht einem Stolpern, fast zwangsläufig. Hier drängt sich der notwendige Makel in die glatte Oberfläche, die Schönheit ist für ihn nicht nur schwer, sie ist für ihn gar nicht zu fassen, sie entzieht sich ihm. In ihrer Flüchtigkeit scheint sie nicht mehr zu existieren, so scheint es ihm, als er in seinem Sitz herumrutscht, denn der Plüsch kratzt am nackten Rücken, am wunden Hals. Ein nahezu aufgezehrter Bestand an erträglichen Dingen, vielleicht sogar an schönen Dingen, sollen ihm geboten werden: die unschuldige, die PERFEKTE Seele; so denkt er bei sich, muß sie denn auch schön sein, und er denkt an die Rosen die er hinabwarf, und an die Erde und die Schaufel die folgten. Da hat er dann auch schon seine Antwort, bloß ZUFRIEDEN ist er damit nicht, und das soll und kann er auch nicht sein. Die schlafende Prinzessin auf der Bühne ist für ihn aufgebahrt, nicht aufgebettet; und ihre Lippen scheinen ihr gesamtes Gesicht zu teilen, sich seufzend teilend geben sie nicht nur eine Wunde frei: ein ganzer ABGRUND liegt da vor ihm. Der angeblich belebende Kuß löst die Schlafende einfach auf, und der Zerfall nimmt kein Ende mehr, denn schwere Flocken fallen von der Decke, und Bühne und Saal leeren sich. Währenddessen bleibt er einfach sitzen, läßt sich vom fallenden Schnee bedecken UND sehnt sich ein bißchen.

[S wie Sermon, Sequel, Sepultur. S wie S.]

In der engen Dunkelkammer der Phantasie muß man sich fragen: was gebiert sie; oder BESSER: wer wird dort geboren. Aber keine endgültige Antwort stellt sich ein. Zumeist nicht einmal: eine Frage. Da hinter ihm liegt das Fleisch in Fetzen. Er hat sich durchgewühlt, liegt nun frierend und elend auf dem schmutzigen Boden. Beinahe erdrosselt saugt er die chemiegeschwängerte Luft gierig ein: und sie scheint ihm besser als MILCH. Mit dem Atem kommt auch die Idee, und er überlegt, ob das SO klug war. Mit dem Leben gezeugt empfindet er sich für den Tod produziert, und ob ihm dieses Leben als Versprechen gelten dürfe, ist ihm noch nicht klar. Ob es ein Gelöbnis wäre, ein Möglichkeit der Besserung - oder gar: der ERLÖSUNG. Dies alles muß zusehends schwinden, ihm als Medizin, auch als Gift erscheinen, das langsam in ihn eingeträufelt wurde. Das trübe Licht, das sich durch schmutzige und zerbrochene Scheiben hereinschleicht, ihm eine elende Umarmung bietet: es ist ihm kein Trost. Auch nicht das kleine Viereck Sonnenlicht: doch scheint es ihm der beste Weg, darin zu baden, dort zu verlöschen; UND dem Leben zuvor zu kommen. Und im Viereck krümmt sich der Wurm, kehrt sein Innerstes hervor, gebiert durch spröde Rippen sich selbst neu. Doch er erhält keine Antwort; selbst wenn er eine Frage hätte stellen wollen.

[T wie Tektonik, Trias, Teichoskopie. T wie T.]

Die Schwellung über ihrem Auge betastend, SO sieht sie aus dem Fenster des Abteils, versucht sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Doch weiterhin die Schwellung berührend, immer gerade leicht genug um nicht zusammenzuzucken, erinnert sie sich an den letzen Kampf; und die Landschaft tritt zurück, verschwindet einfach. Sie erinnert sich an das Gefühl der bandagierten Finger, der schweren Handschuhe. Das Glas der Scheibe ist kühl - nein: es ist KALT, es ist angenehm, die Stirn darauf zu pressen, durch die Bandagen hindurch die Kälte auf sich einwirken lassen. Und sie erinnert sich an das Ächzen der Seile, das darauf folgende Aufeinanderprallen der Körper, die dumpfen Geräusche, die sicheren Bewegungen. Sich umkreisen, stumm, wie verzweifelte Liebende: ZÄRTLICHKEITEN austauschen. Täuschen und dann dort zuschlagen, wo es nicht vermutet wird: hellen, gleißenden Schmerz zufügen. Dabei immer danach fragen müssen, wie sehr man den Schmerz wohl steigern kann. Was dem anderen - und vor allem: uns selbst - zumutbar ist. Ein ständiges Haschen nach flüchtigen Schwächen, dabei: AUSWEICHEN. Um nicht die eigene Zuneigung, das eigene Verfehlen nachgewiesen zu bekommen. Sich hüten, sich fragen: womit habe ich das verdient, womit werde ich das verdienen, und auch DAS. Sie reibt immer noch an ihrer Schwellung, nur der Schmerz bleibt; die Landschaft zieht weiter, zumindest außer Sichtweite.

[U wie Unkenrufe, Unruhe, Unikum. U wie U.]

Nachdem sie eingeschlafen ist, liegt er noch lange wach und stellt sich vor: WIE es wäre, wenn sie für ihn tot sein könnte. Ob sie dann auch für den Rest tot sein müßte, oder ob es wirklich ausreichen könnte, wenn sie einfach nur aus seinem Leben herausfallen würde; aber: in seiner Erinnerung zu verweilen, sich von ihm umformen zu lassen. Vielleicht das Haar wachsen zu lassen, ihm einen Blick auf ihr Herz gewähren; es ihm gelegentlich sogar in die Hand zu geben, damit er es genau betrachten kann, seine Kammern nach und nach erforschen - und irgendwann BEGREIFEN - zu können. Ob er darin eine Seele vorfinden könnte, fragt er sich, oder ob dieses Herz auch nur die vertraute LEERE enthält. Das fahle Licht der Nacht verwandelt sie in eine Schönheit, die er nie in ihr gesehen, ihr nie zugetraut hatte. In seiner Brust breitet sich ein unangenehmer Schmerz aus: ein Gefühl. Wie es wäre, wenn er für sie tot sein könnte, ob er dann auch für den Rest tot sein müßte, denkt er bei sich, den Mond verwünschend. Doch dann scheint sie ihm zuvorzukommen, denn er STIRBT: und auch in ihrer Erinnerung bleibt er nicht, sie hat ihn VERGESSEN, endgültig.

[V wie Variante, Venus, Ventil. V wie V.]

Obwohl er immer auf der Flucht bleiben muß, schafft er es nicht, sie zu verfluchen, sie einfach aus sich zu verbannen. Der Schmerz über dem Lindenblatt wird bei ihrem Anblick unerträglich, er muß sich den Rücken FREI halten und auf der Hut sein, denn: er weiß um sein Lindenblatt und NATÜRLICH weiß sie es auch, hat sie es ihm doch dorthin geklebt. Er erinnert sich dunkel an diese Nacht, und er vermutet, daß auch das Blut von tausend Drachen ihn nicht stärker machen, seinen Makel nicht wegwaschen kann. Und er hat es mehrmals versucht: sich in Badewannen voll Blut wälzend, betend, hoffend, sich schließlich auch von dieser Schwäche befreit zu sehen: aber vergebens. Sich verbergen, ein Stück weiterhasten, die Tasche gegen die Brust gedrückt, aber sie ist nur ein ungenügender Schutzschild: das war sie schon immer. Einen Blick um die nächste Ecke werfen, ganz routinemäßig und ihr trotzdem in die Arme laufen und sie ansehen; all die oberflächlichen Gemeinheiten abspulen, die er sich zurechtgelegt hatte und auf welche er nie: NIE zurückgreifen wollte. Er wundert sich über seine Ausdrucksweise, ganz speziell ihr gegenüber, und noch während des Sprechens bastelt er sich eine Rechtfertigung hierfür zusammen; diese wird er später brauchen, er wird sie BITTER nötig haben. Und sie hasten weiter, die Münder noch aufgerissen und einander beinahe berührend, da erst spürt er seine Verletzung und sieht an sich herab, verflucht das Lindenblatt und sich selbst.

[W wie Walküre, Wallstreet, WYSIWYG. W wie W.]

Mit dem Verlust des letzten Gedankens an dem er sich wärmen konnte, beschloß er, daß er sich in dieser Situation auf die Bilder zu konzentrieren habe, die ihm das Kino bot. In seinen nun einsetzenden Besuchen entwickelte er eine Abneigung gegen jede Form der Geschichte, schließlich waren ihm auch die Dialoge zuviel. Im Versuch aus den jeweiligen Bilderfetzen einen neuen, ihm Sinn verleihenden Gedanken zu destillieren, brachte er Wochen in der Bequemlichkeit der Dunkelheit zu. Doch der Gedanke der SICHERHEIT und des WOHLBEFINDES wollte sich einfach nicht einstellen, einzig in lange Stoffbahnen gehülltes UNGLÜCK blieb ihm im Gedächtnis: und das reichte nicht aus. So legte er sich einen Plan zurecht, den er dann auch ausführte: ZUERST kaufte er weiterhin die Karten zu den Filmen, betrat den Saal aber nicht mehr, DANN kaufte er weiterhin die Zeitung um sich über die Vorstellungen zu informieren und begnügte sich mit der Vorstellung, eine Karte erworben zu haben. ZULETZT saß er zu Hause und spekulierte über das Programm, das sich in der Zeitung finden würde, hätte er eine. ZULETZT saß er zu Hause auf einem großen Stapel Kinokarten, ritzt sich mit dem feinen Papier tiefe Schnitte in sein graues Fleisch, suchte in den blutigen Spuren eine kleine Prise Sinn. Frierend, denn weder Sicherheit noch Wohlbefinden wollten ihn in seiner Wohnung aufsuchen, zündete er den Kartenhaufen an: und während er Feuer fing und langsam verbrannte, wärmte es ihn kein bißchen.

[X wie Xi, Xenobiose, Xoanon. X wie X.]

Den müden Blick des Wartenden auf die Uhr an der Wand geheftet, kommt er doch nicht umhin, die Putzfrau zu bemerken, die ihre Runden durch diesen Teil des Gebäudes dreht. Wie der Befehlshaber einer verlorenen Armee schreitet sie die Reihen der Hoffnungslosen vor den Krankenzimmern ab, und wo immer einer in sich zusammenstürzt, ist sie zur Stelle. Was dann noch übrig ist, besieht sie sich, kehrt sie fein säuberlich auf eine Schaufel. Sind die wartenden Überreste Mensch vollständig wegkehrt und in den dafür vorgesehenen Behälter gefüllt, läuft sie weiter. Er wendet sich von diesem Aasgeier der Hygiene ab, richtet seinen Blick wieder auf die Uhr, ungeduldig, denn er will um seinen Zwilling wissen, er will es GESAGT bekommen, obwohl er es bereits spüren kann. Unfreiwillig muß er zu dem grauen Behälter blicken: in dem sich die Menschen bereits häufen, aber es ist immer noch genug Platz für einen mehr, einer mehr geht IMMER noch. Er merkt das Brechen, erst ein kleiner Knick, dann ein Sprung: quer über die Brust, gefolgt von einem Knacken, das seinen Sitznachbarn aufschrecken und von ihm abrücken läßt. Er will doch noch Gewissheit gesagt bekommen, er will die Wahrheit, aber sein sterbender Zwilling verweigert ihm auch dies. Er kann sich zerbrechen hören, sieht sich in Scherben gehen und Besen und Schaufel über sich schweben. Fein säuberlich kehrt sie ihn zusammen und leert ihn dann weg.

[Y wie Yeoman, Ytong, Yen. Y wie Y.]

Heute will er sein Testament erstellten, und er setzt es tatsächlich auf, so wie er sonst sein Teewasser aufsetzen würde, mit einer Geste der Beliebigkeit. Er schreibt, wenn Wasser und Leben aus ihm heraussprudeln sollten, was sich dann abspielen möge. Und wer was zum Spielen bekäme. Und bei diesem Vorgang, will er eben auch eine Inventur seiner selbst aufstellen. Er schreibt, kommt aber nicht umhin zu bemerken, nur ein ERBÄRMLICH kurzes Schriftstück zusammengeschmiert zu haben; weil er bar jeder Gefühle ist, NUN bar jeder Gefühle ist. Er fühlt sich ausgeliebt und denkt an das Treffen zurück, bei dem er in ihrem Gesicht las, sie sich um die wirklich wichtigen Themen herumdrückten, sie AUSSPARTEN, und er sich bewußt wurde, daß er einfach vergessen hatte, warum er sie hätte lieben sollen. Was es einst gewesen war, und er sich leer fühlte und ausgeliebt und AUS. Dann will er weiterschreiben, doch er ist ja schon am ENDE angekommen, und dann versteht er den wahren Sinn der Testamente. Mit seinem Testament wird sich auch sein jämmerlicher Rest zerstreuen, sich mit der Verteilung seiner vermachten Vergänglichkeiten einfach aufzulösen. DAS scheint ihm eine gute Lösung zu sein, eine geeignete. Er geht zur Post und gibt das Testament auf: und anschließend sich selbst.

[Z wie Zeugma, Zitadelle, Zitat. Z wie Z.]

Ursprünglich wollte ich mich einfach KAPUTTMACHEN; auf eine endgültige Vernichtung, Auslöschung und ein Verschwinden abzielend. Aber das sollte nicht über einen Rückzug, eine diskrete Aktion des Aufgehens im Vergehen funktionieren. Statt dessen wollte ich das Leben, das doch eher aus meiner Realität ausgeklammert dahingegangen war, in tiefen Zügen einzuatmen, mich mit Leben ertränken. Aber nicht das eigene Leben: da war schon zu wenig Leben um zu atmen, um auszukommen. Selbst bei strengster Rationierung würde diese Gegebenheit nicht ausreichen, konnte einfach nicht genug sein. Und der Wunsch sich eine MASCHINE zu schaffen - zum Ausgleich WOFÜR - wurde stärker, nur übertroffen vom Wunsch: selbst eine Maschine zu sein. Mehr und mehr begann ich mich abzuspulen, in dieser Maschine meines Geistes, meinem HÖLLENVERSTÄRKER, aufzugehen. Aus der erwünschten Verdichtung, dem Rückzug, wurde eine VERschreibung, eine Verwandlung: eine SCHREIBmaschine blieb dann dort, wo ich einst gewesen war. SCHÖN.

[A wie Z wie der Rest wie ALLES und NICHT wie SCHLUSS und doch WEITER.]

Thomas Ballhausen © 2000 - 2001