Die Zeit der 1980er und 90er Jahre mit ihrer ausgeprägten elektronisch-technologischen Ausrichtung in der Kunst brachte das Ende einer Ära, in der enge Verbindungen zwischen der Kunst, den Geisteswissenschaften und der Philosophie bestanden hatten. Diese Trinität, die für das gesamte 20. Jahrhundert charakterisch gewesen war, gründete auf einem omnipräsenten Unbehagen hinsichtlich dem Instrument der Sprache und ihrer Verwendung in unterschiedlichen Umgebungen. Die gegenwärtige Entwicklung von Computer- und Informationstechnologien, die sehr schnell in sämtlichen Bereichen menschlichen Wissens Fuß gefasst haben, zwingt Autoren (Kuratoren, Verleger, Wissenschaftler etc.) die Besorgnis, die im "grossen Linguistikdiskurs" sowie in Übersetzungstechniken zutage tritt, durch direkte Handlungsaktivitäten zu ersetzen, deren Methoden in direktem Zusammenhang mit der Physiologie samt all ihrer Regelmäßigkeiten und vielfältigen Einzelphänomenen stehen. Dieser Prozeß des Übergangs ist gekennzeichnet von einem sukzessiven Verschwimmen einst klar strukturierter und abgegrenzter Bereiche in Literatur und Kunst. Welche sind heutzutage die historischen Kategorien zeitgenössischer Literatur? Wohin verschieben sich die Grenzen zwischen den Genres? Antworten auf diese Fragen kann die Auseinandersetzung mit einem der gegenwärtigen intermediären Beschäftigungsfelder, die Lautpoesie, geben.
Mehr als ein halbes Jahrhundert schöpferischer Anstrengungen im Bereich formaler Literatur mündeten nicht nur in deren totalen Ausweitung auch auf wissenschaftliche und technische Bereiche, die mit Literatur und Kunst wenig gemein haben, sondern auch darin, dass eine Reihe von Techniken für die künstliche Konstruktion von Realität für den eigenen Zweck adaptiert werden. Dieser Entwicklung entsprechend nahmen Werke der Lautpoesie Formen und werkimmanente Strukturen an, die für eine traditionelle Lyrik sehr untypisch sind. Kennzeichnend hierfür sind eine etwas radikale intermediäre Form, deren Komposition durch Tempo und Rhythmus der Phonetik bestimmt wird auf der einen Seite - pulsierende Klanghöhlen, schnelle verbale Cuts und Übergänge, überraschende Betonungen sowie unterschiedliche performative Aspekte etc., die in einem integralen System von Ausdruck und Bedeutung eingebettet sind. Auf der anderen Seite kann zeitgenössische Lautpoesie als technisch-methodisches Element betrachtet werden, das die vielfältigen Möglichkeiten nutzt, elektronisch generierte Sounds zu produzieren, modifizieren und vorzustellen und sich zugleich einer Reihe an Mustern für vernetzte Interaktion bedient. Lautpoesie die einem akustischen Modell entsprechend komponiert wird, balanciert zwischen Poesie und Musik und ist idealerweise auch ausgefeiltes Arbeitsmaterial in Form einer Klangsymphonie.
Das eigentliche Genre der Lautpoesie weist eine grosse Vielfalt auf, worunter man einige signifikante Tendenzen erläutern kann, die die spezifische Form der Lautpoesie vereint:
- Phonetische Poesie: untersucht die Möglichkeiten der reinen Stimme sowie die physischen Bedingungen, Sound zu erzeugen; dabei lehnt sich diese Richtung an die historischen Beispiele phonetischer Poesie der Dadaisten und Futuristen. Hervorzuheben sind die Arbeiten der Urväter der Lautpoesie Henri Chopin (Frankreich), Carlfriedrich Claus (Deutschland), Arrigo Lora-Totino (Italien). Zu den prominenten Nachfolgern dieser Richtung zählen Valeri Scherstjanoj (Deutschland), Jaap Blonk (Holland) und Paul Dutton (Kanada).
- konzeptuelle Poesie: dieser Ansatz steht in Bezug zu künstlerischen Herangehensweisen der Vertreter der Konzeptkunst der 70er und 80er Jahre. Arbeiten dieser Gruppe basieren immer auf einem zentralen Konzept sowie auf der Idee einer Dramaturgie in einem Werk. Zu den Vertretern dieser Richtung zählen der amerikanische Konzeptualist Richard Kostelanetz, der brasilianische Lyriker Philadelpho Menezes und der russische Künstler Sergei Provorov.
- Techno-body-poems, Soft- und Netzpoesie: ihrer Definition entsprechend vereinigen Werke dieser Form der Lautpoesie akustische Elemente und technologische Samples (mittels Software, Netzwerk und Creative Computering) mit einer semantischen Funktion; es können auch weitere Elemente benutzt werden. Hier sollten Pierre-Andre Arcand (Kanada), Trevor Wishart (England), Liesl Ujvary (Österreich) and Lars-Gunnar Bodin (Schweden) erwähnt werden, deren Arbeiten allesamt die Vorstellung einer Entwicklung von multimedialer Kunst hin zu intermedialer Kunst innerhalb eines Computergestützten Bereichs unterstützen.
Diese Ansätze sind ein Beweis für die Lebendigkeit heutiger Lautpoesie und deren potentielle Fähigkeit, Traditionen mit aktuellen Entwicklungen harmonisch zusammenzuführen wie auch gleichzeitig die Bedeutung, neue Technologien mit der Präsenz des Körpers und der Stimme zu verbinden, zu betonen und folglich ein Konzept von Poesie, die für jedes Experiment offen ist, zu entwerfen.