Sonntag, 09. April 2023, 22:05 - 23:00, Ö1

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RADIOKUNST - KUNSTRADIO






  • © Anna Friz




  • KONTINUUM - Water Line / Estuary Almanac

    von absolute value of noise und Anna Friz




    Ein generatives Radiostück, das den Rhythmen des Gezeitenwassers am Flussufer folgt.

  • © Anna Friz
  • An der Mündung eines Flusses trifft salziges auf süßes Wasser. Die Gezeiten unterliegen den Einflüssen des Mondes und der Sonne. Der Fluss flutet und schrumpft mit den Jahreszeiten, das Delta verschiebt seine Position über Jahrhunderte. Das Leben am Rande des Mündungsgebiets existiert weiter und unterliegt dynamischen Veränderungen, da es sowohl im als auch außerhalb des Wassers existiert. Eine Sandbank ragt einmal am Tag aus dem Wasser hinaus und verschwindet wieder - ein Zuhause für Muscheln, Austern und andere Weichtiere, Anemonen, Seeigeln, Küstenvögel und Robben. Ein Felsplateau mit Gezeitentümpeln ist voll von winzigen Fischen und Krebsen, Seeigeln, Seesternen, Muscheln und Algen. Fische schwimmen den Fluss hinunter ins Meer und kehren zum Laichen zurück. Pflanzen und Bäume werden verschlungen oder bleiben im Trockenen. Als Folge der (Über-)Nutzung durch moderne Städte und Gesellschaften dominiert die mineralgewinnende Industrie einen großen Fluss und seine Ökologie, die dann verkümmert und zerfällt sowie durch neue Formen des globalen Handels, des Tourismus und der Schifffahrt ersetzt wird. Wenn das Packeis abnimmt und die Meere sich erwärmen, steigen die Wasserstände und die Niederschlagsmuster verändern sich, wobei sich die Abstände zwischen Hoch- und Niedrigwasser immer mehr ausdehnen. Diese Dynamik des Wandels schwankt über das ganze Jahr hinweg und verursacht im Zeitalter der Klimakrise gefährliche Situationen.

    Water Line ist ein generatives Hörstück, das den Raum zwischen den Gezeiten und zwischen Salz- und Brackwasser veranschaulicht. Je nach Höhe der Gezeiten befindet sich der/die Hörer:in unter oder über der Wasseroberfläche, von der Tiefsee bis zu Tausenden von Metern in der Luft. Durch eine Kombination von akustischen und elektromagnetischen Feldaufnahmen sowie poetischen Kompositionen arbeitet Water Line sowohl mit dokumentarisch festgehaltenen als auch mit imaginären Flussräumen, sowie den dort lebenden Lebewesen und Organismen, dem menschlichen und dem übermenschlichen Leben. Die Dynamik reicht vom Dröhnen der Motoren und Turbinen bis hin zu den sehr subtilen Klängen von Muscheln, dem Wandern und dem hohen Zischen von Krabben oder dem Zirpen von Sandflöhen. Umweltgeräusche treffen auf elektronische Kompositionen, um die vielfältigen Wahrnehmungen des Lebens über und unter Wasser auszudrücken. Von den Seetangwäldern unter Wasser und den Hochwasserzonen über das Watt und die Sumpfgebiete, vom industrialisierten Fluss bis hin zu den nahe gelegenen felsigen Buchten verwenden die Künstler:innen Feldaufnahmen, kombinieren diese mit Vorstellungen und spielerischen Interpretationen des Flusses, der Schlick und Wasser anschwemmt, um eine Komposition zu schaffen, die über den Tag, das Monat und das Jahr hinweg oszilliert.

    Im Mittelpunkt des Stücks steht das schlammige, sich verändernde Flussdelta, das von den hən̓q̓əmin̓əm̓-sprechenden Musqueam-Indianern stal̕əw̓ genannt wird, oder stó: lō von den indigenen Völkern der halq'eméylem, den Coast Salish, die auch heute noch das Flusstal des Fraser River bewohnen, das sich durch das Großstadtgebiet von Vancouver schlängelt. Das koloniale Erbe des Fraser River ist verbunden mit Raubbau wie Fellhandel, Holzwirtschaft und Zellstofffabriken, Bergbau, Fischerei und Landwirtschaft. Zusätzlich breiteten sich die Vororte von Vancouver im Flussdelta immer weiter aus und verdrängten die Farmen durch Häuser, Parkplätze und einen internationalen Flughafen. Doch der Fluss ist immer noch ein eigener Ort, den die Lachse in vielerlei Hinsicht ökologisch geprägt haben, und derzeit hat der stó:lō immer noch den größten Lachsbestand aller Flüsse in Kanada.

    Water Line ist nicht nur ein generatives Hörstück, das sich mit Hilfe einer von absolute value of noise speziell entwickelten Software 365 Tage lang entfaltet, sondern auch ein Stück, das über das Jahr hinweg Klänge sammelt, da die Künstler:innen laufend aufnehmen und komponieren. Das Stück inszeniert fiktive Zusammenflüsse des stó:lō mit weit entfernten Flüssen, so als ob ein Fluss eine Übertragung oder einen Traum vom Leben anderer Flüsse wie der Elbe und der Donau empfangen könnte, ähnlich lange Wasserstraßen mit schlammigen Deltas, die ins Meer münden, so dass die Komposition das Klirren des Hamburger Hafens, die Boote und Kanäle der Donau sowie das entfernte Delta, in dem die Elbe in die Nordsee mündet, einbezieht.

    Zum Jahresende wird das Stück zu einem Mündungsalmanach werden, einer Zusammenstellung von dokumentierten und imaginierten Flusslandschaften, bei der wir die Ohren auf die Wasseroberfläche gerichtet haben. Obwohl die Flussufer immer mehr zubetoniert werden, obwohl die Gewässer Geister der Vergangenheit bergen, die durch die sommerliche Trockenheit sichtbar werden, handelt es sich doch um vitale Flüsse, deren Lebensspannen bereits Reiche überdauert haben und weiterhin überdauern werden.


  • Links:
  • Audiostream Water Line
  • Sendung Deutchlandfunk Kultur