Sonntag, 18. Juli 2021, 23:03 - 0:00, Ö1

[ ENGLISH ]

RADIOKUNST - KUNSTRADIO




EBU Ars Acustica - Palma Online discussion


Prix Palma Ars Acustica 2021

1) „Ivry-sur-Seine“ von Iain Chambers (WDR)
2) „Habitat“ von Savannah Agger (SR)

Der Prix Palma Ars Acustica (PAA) ist ein international ausgeschriebener Wettbewerb, der von der Euroradio Ars Acustica Group organisiert wird, um herausragende Radiokunsproduktionen zu fördern und zu ehren: Radiokunst, Klangkunst, Medienkunst, Text-Klang-Kompositionen, elektroakustische Musik, Live-Electronica, etc. – für all diese Sparten ist der Wettbewerb offen; eingereicht werden Stücke von den Mitgliedern der Ars Acustica, also Radiokunst-Redaktionen öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten in ganz Europa.

Heuer fand die Kür des Preisträgers online statt, gewonnen hat der Künstler Iain Chambers mit einer Produktion des deutschen WDR: „Ivry-sur-Seine“ ist eine akustische Erkundung der in den 1970er Jahren gebauten Wohnanlage im gleichnamigen Pariser Vorort. Diese Anlage wird – ob des Einsatzes von Sichtbeton und der unkonventionellen Formensprache – dem Brutalismus zugerechnet.

Ein Auszug aus der Begründung der Jury:
„Iain Chambers hat es geschafft, die die brutalistische Architektur im Medium des Klangs und im menschlichen, soziologischen Kontext neu zu denken und dabei eine kompositorische Logik höchsten Grades beizubehalten. Ivry-sur-Seine ist sowohl Konfrontation - physische, taktile, auditive, emotionale Konfrontation - mit der lebendigen Umgebung, als auch großartige Musique Concrete in jedem Moment des Stücks.“

Die anderen Finalisten waren:
Alien Productions (ORF) für "Performing Utopia", eine Radiooper
Olga Kokcharova (RTS), für "Die Ebbinghaus-Kurve des Vergessens"
Adriana Kramarić | Marija Pečnik Kvesić (HRTR) für "Ars Mundi"
Savannah Agger (SR) für "Habitat"




1) „Ivry-sur-Seine“ von Iain Chambers (WDR)



PLAY



Brutalistische Architektur zeichnet sich durch den Einsatz von Sicht-Beton aus – roh, „brut“ eben. Oft schlecht beleumundet, wurden einige interessante Beispiele des Brutalismus – trotz ihrer architektonischen Qualität – abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Nicht nur Architekturinteressierte haben in den letzten Jahren den Brutalismus als architektonisches Phänomen neu entdeckt und zu einer höheren Wertschätzung verholfen – etwa die Plattform SOSBrutalismus.

Als gut erhalten und bei Bewohnerinnen nach wie vor beliebt gelten die Wohnanlagen der Architekten Reneé Gailhoustet und Jean Renaudie, allen voran die „L’Etoile d’Ivry“ genannte Sozialwohnsiedlung im südöstlichen Pariser Vorort Ivry-sur-Seine. Die komplexe Struktur aus dreieckigen Formen ist nicht nur spektakulär anzusehen – vor allem berücksichtigt sie soziale Aspekte des Zusammenlebens. Geschäfte und Büros sind mit Wohnbereichen kombiniert, verbunden durch ein System aus privaten Wegen und öffentlichen Straßen.

In und um diese Gebäude hat Iain Chambers das Stück „Ivry-sur-Sein“ komponiert, als Teil einer längeren Beschäftigung mit modernistischer Architektur der Pariser Banlieus. Inspiriert von der bahnbrechenden Architektur, machte der Künstler drei Arten von Aufnahmen, um die Erfahrung dieser Betonstrukturen durch Klang zu beschreiben:

Einerseits Umgebungsaufnahmen, um die gelebte Erfahrung durch die Bewohner und Benutzerinnen zu vermitteln, inkl. Geräuschen außerhalb der Architektur: Sirenen, Vogelgezwitscher, Verkehr.

Für die zweite Art von Aufnahmen „bespielte“ er das Gebäude: die Akustik der Räume wird durch menschliche Geräusche und harte Gegenstände - wie Steine oder Fliesen – angeregt.

Die dritte Kategorie von Aufnahmen nutzte die Gebäude als Resonatoren, die unsere Ohren auf die umgebende Klangwelt verstärken oder fokussieren, aber durch die Linse der gebauten Struktur. Kontaktmikrofone wurden an Metallgeländern, Generatoren und Türen befestigt, um die der Architektur inhärenten Mikro-Klänge zu aktivieren.

Der einzige Ton außerhalb von Ivry ist ein Auszug aus Nicolas Sarkozys Beschreibung französischer Randalierer als "racaille", "Abschaum", im Jahr 2005. Womit er die Ausschreitungen in den Banlieues, in denen diese brutalistischen Bauten zumeist stehen, weiter angeheizt haben soll.




2) „Habitat“ von Savannah Agger (SR)



PLAY



Habitat heißt Lebensraum – im Sinne von natürlicher Umgebung, in der ein Tier oder eine Pflanze normalerweise lebt, aber auch im Sinne von Heimat, Umgebung, Territorium, Szene, Umfeld, Kontext, Bedingungen und Umstände usw.

Der Mensch hat alle natürlichen Lebensräume der Welt in vielerlei Hinsicht beeinflusst, das 'Natürliche' ist zu einem anderen Zustand des Natürlichen geworden, oder nur zu einem 'anderen natürlichen Zustand der Natur' – vielleicht für immer verändert. Können wir überhaupt noch von einer wirklichen 'natürlichen' Natur sprechen, wenn wir auch die Mikroebene der physischen Materie berücksichtigen? Das Stück „Habitat“ ist aus einer vielfältigen Sammlung von Aufnahmen von Umweltgeräuschen, Tieren, Feldaufnahmen, sowie synthetischen Klängen, Kreaturen und Umgebungen entstanden. Die Komposition befindet sich in ständigem Fluss zwischen 'realen' Orten und 'unwirklichen' Räumen und erschafft seine eigenen klingenden, transnaturellen Lebensräume.

Link:
EBU Ars Acustica Gruppe