Sonntag, 8. Oktober 2017, 23:03 - 00:00, Ö1

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KUNSTRADIO - RADIOKUNST





Foto: Maria Kassab

“Happy New Fear”
von Rima Najdi
Live vom ORF musikprotokoll


Was tut eine Gesellschaft in Angst? Hört sie auf zu funktionieren, oder verdrängt sie und macht weiter? Leben wir allein mit unserer Angst oder teilen wir sie? Wie können wir über solche Gefühlen sprechen?
Diesen Fragen geht die libanesische Performancekünstlerin Rima Najdi im Rahmen des Ö1 Kunstsonntags - live vom ORF musikprotokoll Festival in Graz gemeinsam mit der Komponistin und Musikerin Kathy Alberici, sowie der Video-Künstlerin Ana Nieves Moya in ihrer Performance aus dem ORF Steiermark nach. "Happy New Fear" gewann einen der beiden Produktionspreise beim CTM Radio Lab 2017.

Madame Bomba ist eine Kunstfigur, die eine rote Bombenattrappe um ihren Brustkorb geschnallt hat. Die Bombe kann nicht explodieren, aber sie kann die Bombe auch nicht los werden. Madame Bomba reagiert nur mit Fragen, da sie überhaupt keine Antworten hat. Vollständige Sätze schreibt sie in ihr Tagebuch. Madame Bombas Psyche ist ein wenig kompliziert. Sie glaubt an die Wirkung geheimnisvoller Kräfte. Sie ist besessen von Begegnungen mit Fremden und verdächtigen Gegenständen. Sie hält sich selbst für ein Kunstobjekt. Ihr ist bewusst, dass die rote Bombenattrappe, die sie trägt, Angst und Argwohn hervorruft, aber sie findet, dass sie in einem Land lebt, in dem die meisten Menschen mit solchen Gefühlen vertraut sind. Darum hat sie sich entschieden, sie nicht mehr zu verstecken.

Ihre Hobbies sind Gedichte schreiben, in den Straßen spazieren gehen und in Cafés sitzen, um Leute zu beobachten. Die Geräusche, die Madame Bomba hört, sind dramatisch und beängstigend. Sie verklingen langsam, um dann zu explodieren. Sie kommen und gehen. Madame Bomba ist sich bewusst darüber, welchen Schaden sie verursachen kann, schließlich guckt sie jeden Abend um acht Uhr Beiruter Zeit Nachrichten. Sie macht es sich bequem, wenn sie Nachrichten guckt und starrt in altbekannte Gesichter. Die Gemütlichkeit macht sie nur noch unruhiger und die Nachrichten müder. Um ihre Beklemmung zu verbergen, guckt sie sich alberne Fernsehshows an, um dann einzuschlafen. Und sie schläft nur, wenn sie wirklich müde ist.

Madame Bomba hat geheimnisvolle Kräfte, sie kann sich selbst aus ihrem Körper werfen. Sie selbst treibt umher, während ihr Körper an seinem Ort bleibt. Manchmal weint Madame Bomba, wenn sich ihr Selbst und ihr Körper voneinander entfernen. Wenn Madame Bomba weint, fängt sie an, sich Gedanken über ihr Dasein in solch einem Körper zu machen; ein Körper, der ein verdecktes Thema mit sich trägt. Sie hasst den Umstand, dass es verdeckt ist. Madame Bomba weiß, dass du es kennst und dass dir ihre verdächtige, tickende, rote, gefakte Bombe vertraut ist. Es ist ihr egal, dass du dich vielleicht darüber lustig machst. Aber sie erträgt den Gedanken nicht, diesen Teil ihres Körpers zu verstecken, wenn sie fremde Menschen in der Stadt trifft. Sie ist emotional nicht bereit zu verstehen, warum eine Gesellschaft ihre unbequemen Erinnerungen, unbequemen Wunden, unbequemen Häute verstecken soll.
Rima Najdi (Übersetzung: Julia Tieke)


Links:
CTM Radio Lab 2017
ORF musikprotokoll
Happy New Fear bei Deutschlandfunk Kultur
Ö1 Kunstsonntag