Sonntag, 27. Dezember 2015, 23:03 - 23:59, Ö1

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KUNSTRADIO - RADIOKUNST



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Utopia wohnt nebenan
von Gerald Fiebig und Eri Kassnel

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Abstract
25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist vielerorts wieder eine große politische Distanz zwischen Westeuropa (z.B. Österreich) und Osteuropa (z.B. Rumänien) auszumachen. Allein schon an den historischen Wahlverwandtschaften zwischen den Städten Wien und Timişoara lässt sich festmachen, dass dies ein Zerrbild ist. Für das Stück Utopia nebenan bewegen sich die Autor_innen durch die beiden Städte, inspiriert vom situationistischen Konzept der psychogeographischen Erkundung. Ausgangspunkte des ‚Umherschweifens’ sind jeweils die Stadtteile Innere Stadt und Josefstadt (die es aufgrund der gemeinsamen Geschichte in Wien und Timişoara gibt). Aus den dabei gesammelten Fieldrecordings komponieren sie die Klanglandschaft einer utopischen Stadt, in der der Gegensatz von West und Ost außer Kraft gesetzt ist. In die Komposition eingewoben sind O-Töne mit Zeitzeug_innen, die sich an solidarisches Zusammenleben in Wien bzw. Timişoara unter schwierigen sozialen und politischen Bedingungen in unterschiedlichen Phasen des 20. Jahrhunderts erinnern. Die Zitate werden anhand gemeinsamer thematischer Motive in einen dialogartigen Bezug zueinander gesetzt, die den Blick auf den „Überschuss des Möglichen im Wirklichen“ (Erich Köhler) der realen Geschichte von Österreich und Rumänien eröffnen. Die Sprecher_innen sind Friederike Brenner (geboren 1923 in Mödling bei Wien) und Johann Kassnel (geboren 1932 in Jahrmarkt bei Timişoara).

Konzept
Utopia, der ‚Ort, den es nirgends gibt’, wird in Anknüpfung an Thomas Morus, der den Begriff erfand, häufig als ein Ort verstanden, den es erst zu verwirklichen gilt, der also in der Zukunft liegt. Bis dahin existiert Utopia nur in der Imagination. Aber wie kommt man überhaupt zu einem utopischen Bild der Zukunft? Und wie hat man sich den Übergang vom real existierenden Jetzt in die Zeit der verwirklichten Utopie vorzustellen?

Bereits in früheren Arbeiten von Eri Kassnel und Gerald Fiebig findet sich die Idee, dass ‚Utopie’ als Entwurf eines ‚ganz anderen’ Ortes, als Sehnsuchtsort bzw. Gegenentwurf, der die persönliche oder auch politische Gegenwart konterkariert, sich nicht nur aus der Zukunft, sondern auch aus der Vergangenheit speisen kann. In Arbeiten wie Rückkehr ins Paradies oder dem Work-in-progress Briefe nach Utopia thematisiert Kassnel beispielsweise die kreative Rolle der Imagination bei der Rekonstruktion vergangener Epochen. Häufig arbeitet sie dabei mit biographischen Versatzstücken aus dem Umfeld ihrer Familiengeschichte: Wie viele Familien aus der rumäniendeutschen Community der Banater Schwaben übersiedelten die Kassnels Ende der 1970er Jahre aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland. Ebenfalls ein biographischer Bezug, in diesem Fall zu einem der antifaschistischen Kämpfer im Wien des Februar 1934, bildet eines der Substrate für Fiebigs Radioarbeit 12.02.1934, die das ORF Kunstradio 2014 gesendet hat – eine von mehreren Arbeiten Fiebigs, die historische Epochen durch Klangmaterialien damit verbundener Orte (im Fall des genannten Stücks der Wiener Karl-Marx-Hof) evozieren.

Vor diesem Hintergrund unternimmt die erste gemeinsame Arbeit der beiden Künstler_innen den Versuch, einen utopischen Ort aus der Überlagerung und Verflechtung von zwei realen Orten zu imaginieren, und zwar im Medium des Klangs. Aus Klängen der Stadt Timişoara und Klängen der Stadt Wien soll im Rahmen dieser radiophonen Komposition ein neuer, imaginärer Klangraum entstehen, der über die heute aktuelle Wirklichkeit hinausweist. Diese Wirklichkeit wird in politischer Hinsicht aktuell stark von einer ‚gefühlten Grenze’ zwischen Westeuropa und Osteuropa geprägt – Ressentiments gegen eine vermeintliche Überschwemmung des Arbeitsmarktes durch ‚Billigarbeiter’ aus Rumänien haben die politische Debatte in etlichen westeuropäischen Ländern seit der Öffnung des EU-Arbeitsmarktes Anfang 2014 geprägt. Das Stück setzt dagegen einen künstlerischen Gegenentwurf, der auf der Frage basiert: Was wäre, wenn West und Ost keine Gegensätze wären, sondern an einem utopischen Ort zusammenfallen würden?

Wien und Timişoara drängen sich als Ausgangspunkte für eine solche Arbeit aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte förmlich auf. Die Geschichte des Banats seit Beginn des 18. Jahrhunderts zeigt schlaglichtartig auf, dass diese dualistische Trennung von Ost und West eine aus der Zeit des Kalten Krieges überkommene Vorstellung ist, der eine viel längere Phase des Zusammenlebens verschiedener Communities im habsburgischen Mitteleuropa voranging. Bei der realen Beendigung dieses Dualismus kam gerade Timişoara eine Schlüsselrolle zu, nahm hier doch im Dezember 1989 die rumänische Revolution ihren Ausgang, die zum Ende der Ceausescu-Diktatur führte.

Wie die ‚persönlichen Utopien’ in den früheren autobiographisch geprägten Arbeiten von Kassnel und Fiebig wird also auch bei dieser politischen Utopie auf die Vergangenheit zurückgegriffen – eine Vergangenheit, die aufzeigt, was schon einmal möglich war, und was auf den in ihr angelegten Wegen noch möglich (gewesen) wäre. Die Wahlverwandtschaft der Städte beginnt schon damit, dass in Wien wesentliche politische Entscheidungen für die Entstehung der deutschen Community im Banat fielen, dessen Hauptstadt Timişoara ist. 1716 erobert Prinz Eugen die Stadt Temeswar von den Türken. Zur Neubesiedelung und Nutzbarmachung der von Kriegen entvölkerten Region wirbt die habsburgische Verwaltung Kolonisten aus unterschiedlichen deutschsprachigen Regionen an. Im Zuge der napoleonischen Kriege werden 1809 die kaiserlichen Reichsinsignien aus Wien nach Temeswar gebracht; nach dem Zerfall des Habsburgerreiches wurde das Banat 1920 zwischen Ungarn, Jugoslawien und Rumänien aufgeteilt, wobei letzteres den größten Teil erhielt.

Komposition
Die Beziehung zwischen der Habsburgermetropole Wien und der habsburgisch geprägten Stadtgeschichte Timişoaras seit 1716 lässt sich bis heute auf Stadtplänen ablesen. Timişoaras zentraler Stadtteil Cetate wird auf Deutsch wie der 1. Wiener Gemeindebezirk als Innere Stadt bezeichnet, und in beiden Städten findet sich ein Bezirk Josefstadt (rumänisch Iosefin). Bei der Realisation des Radiostücks dienen diese Stadtteile als Ausgangspunkte für Erkundungen mit laufendem Aufnahmegerät, um den Klang der Städte einzufangen. Anders als bei einer dokumentarisch oder klangökologisch motivierten Soundscape-Komposition, die gezielt bestimmte Klangsignaturen eines Ortes aufsucht, die als ‚repräsentativ’ für einen realen Ort verstanden werden, folgen die Autor_innen bei ihren Exkursionen der von den Situationisten entwickelten Methode des Umherschweifens, das man als ein gezieltes Sich-Verlaufen umschreiben könnte. Damit soll vermieden werden, dass den Städten bereits mit einer vorgefertigten Klang-Idee von ‚typisch Wien’ oder ‚typisch Timişoara’ begegnet wird – damit würde man nämlich Gefahr laufen, genau die Klischees von West- und Osteuropa zu zementieren, die man auflösen möchte. Die Komposition des neuen, utopischen Klang-Ortes soll sich aus den Klängen ergeben, die sich einfangen lassen, wenn man sich im Zuge des Umherschweifens „den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen“ überlässt. Das Umherschweifen als „Technik des eiligen Durchquerens abwechslungsreicher Umgebungen“ gibt nämlich auch eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie der Übergang in die realisierte Utopie vonstattengehe. Denn für die Situationisten war das Umherschweifen eine Praxis, die – zwar mit politischem Hintergrund, aber zunächst im subjektiven Erleben – den Einbruch der Utopie in die Gegenwart ermöglichen sollte. Daher sahen die Situationisten das Umherschweifen „untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt. Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen“. Ziel dieser bewussten Suspendierung alltäglicher Verhaltensweisen – die im Fall dieses Projekts dadurch begünstigt wird, dass die Umherschweifenden im Alltag nicht in Wien oder Timişoara leben – ist die Erzeugung einer Fremdheit, die die Wahrnehmung von spezifischen atmosphärischen (‚psychogeographischen’) Eigenheiten des Ortes schärfen soll. Die im Zuge des Umherschweifens gesammelten Klang- (und Bild-) Materialien sollen in ihrer Kombination zu einem imaginären dritten Ort auch Bewohner_innen der realen Orte eine neue Perspektive auf ihre alltägliche Umwelt ermöglichen.

G.-E. Debord: Theorie des Umherschweifens. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg: Edition Nautilus 1995, S. 64.

2. Transatlantic Free Trade
von Gerald Fiebig
Radiophone Skulptur
Dauer 17’01’’

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Diese Originalarbeit für das Kunstradio beschäftigt sich mit den umstrittenen Freihandelsabkommen, die derzeit zwischen der EU und den USA verhandelt werden. Bei Abschluss der Verträge drohen neben sozialen und ökologischen Problemen auch massive Einbußen in der kulturellen Vielfalt Europas, etwa durch Einschränkungen der Kunstförderung durch die öffentliche Hand.

Die Arbeit thematisiert die zerstörerischen Wirkungen des vermeintlich „freien“ transatlantischen Handels anhand je eines US-amerikanischen und eines europäischen Klangartefakts. Beide werden zwischen jedem Abspielen immer wieder von einem Stereokanal zum anderen hin- und hergeschickt – symbolisch gesehen also von einer Seite des Atlantiks zur anderen.

Bei den Artefakten handelt es sich um Zitate aus Popsongs, die zu ihrer Zeit „Exportschlager“ waren: aus dem Klassiker „Dancing in the Streets“ von Martha and the Vandellas, der auf dem in den 1960ern auch in Europa sehr populären amerikanischen Motown-Label erschien, und aus „Rock Me Amadeus“ von Falco, einer der ganz wenigen aus Europa stammenden Produktionen, die jemals die Nr. 1 der US-Hitliste erreichte.

Dass der transatlantische Austausch auch eine Schattenseite haben kann, wenn er einseitig ausgestaltet wird, deutet die Arbeit durch eine klangliche Metapher an. Bei jedem Hin- und Hersenden der Musikfragmente verstummt ein kleines Stück davon. Durch diese „Löcher“ in der Musik dringt ein Rauschen, das sich im Lauf der Zeit immer deutlicher als Meeresrauschen herausstellt. Es handelt sich hier um das Geräusch des Atlantiks, aufgenommen auf den Azoren, also etwa auf halbem Weg zwischen Amerika und Europa. Die Arbeit bringt somit kulturelle – und dabei durchaus kommerzielle – Artefakte in ein Spannungsfeld mit der reinen Natur. Man kann dies als Anspielung darauf lesen, dass die aktuell diskutierten Freihandelsabkommen kommerzielle Interessen einzelner Unternehmen über die Vorsorge für das Dasein von Millionen von Menschen stellen.

3. Echoes of Industry
von Gerald Fiebig und Christian Z. Müller
Christian Z. Müller: Saxofone, Theremin
Gerald Fiebig: Sampler, Fieldrecordings, Bearbeitung
Komposition und Realisation: Gerald Fiebig & Christian Z. Müller

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Aufgrund seiner nichtvisuellen Natur, seiner ‘körperlosen Stimme’, ist das Radio das ideale ‚Geister’-Medium, wenn es um die Darstellung des Verschwindens geht, den Übergang einstmals sichtbarer Dinge in einen Zustand, in dem sie halb anwesend und halb erinnert sind. Echoes of Industry unternimmt den Versuch, in akustischer Form die sozialen und architektonischen Verschiebungen zu thematisieren, die in europäischen Städten passieren, wenn bestimmte Industriezweige aufgegeben und ihre früheren Anlagen zu Museen, Kulturstätten oder schlicht Ruinen werden, während sich die Industrie selbst immer stärker digitalisiert. Zu diesem Zweck wurden die Klänge von Textilmaschinen aufgenommen – in einem Museum (http://www.timbayern.de/), das der Geschichte der einstmals pulsierenden Textilindustrie der Stadt Augsburg gewidmet ist. Sie bilden den ersten Teil des Stücks, wobei die Klänge verschiedener Maschinen übereinander gelegt wurden. Für den zweiten Teil des Stücks wurden Samples dieser Klänge im Rahmen einer Duo-Improvisation mit einem Saxofon in einem ehemaligen Gasometer in derselben Stadt wieder abgespielt. Dabei wurde das sehr ausgeprägte Echo in dieser 84 Meter hohen Metallkammer (http://www.gaswerk-augsburg.de/gasbehaelter_augsburg.html) genutzt. Die Aufnahme im Gasometer fand im Herbst 2014 statt, als der Tank die Installation The Secret Heart von Jaume Plensa beherbergte, eine riesige aufblasbare Skulptur in der Form eines menschlichen Herzens. Das Zischen der Pumpen, die der Skulptur Form gaben, wurde aus den Aufnahmen herausgefiltert. Nach Bearbeitung seiner Tonhöhe wurde es anschließend als eigenständiges kompositorisches Element eingesetzt, dessen Klang auf das Zischen von Gas und damit die ursprüngliche Nutzung des Tanks anspielt.

Solche Gasometer, viele davon inzwischen außer Betrieb, finden sich in zahlreichen europäischen Städten, von Oberhausen im Ruhrgebiet bis Ostrava in der Tschechischen Republik – weithin sichtbare Denkmäler einer industriellen Technologie, die nach und nach aufgegeben wird. Die Textilindustrie wiederum ist bereits so gut wie vollständig aus Europa verschwunden, nachdem diese Industrie die Erscheinung vieler Städte des Kontinents für mehr als ein Jahrhundert geprägt hatte. Die von Manchester ausgehende Industrialisierung der Textilproduktion war die Blaupause für die industrielle Revolution, und so wie Augsburg als bayerisches Manchester bezeichnet wurde, gab es auch ein sächsisches Manchester (Chemnitz), ein polnisches Manchester (Łódź) und ein russisches Manchester (Ivanovo).
Im dritten und letzten Teil des Stücks übernimmt ein anderes Instrument vom Saxofon: das Theremin. Dieses von vornherein als ‚körperlos’ konzipierte Instrument ist eine ideale Metapher für die Verschiebung von analogen zu digitalen Formen der Produktion, in der Industrie oder anderswo. Um diese Verschiebung zu betonen, wird auch der Klang des Theremins mit Echoeffekten bearbeitet, aber diesmal mit digitalen: Simulierte Räume treten an die Stelle der gebauten Echokammer des Gastanks, so wie auch das ätherische Theremin das durchaus materielle Saxofon ablöst.
Akustische Fragmente von inzwischen antiker Textilmaschinen, abgespielt in einer Echokammer, die ihrem ursprünglichen Zweck enthoben ist und sich in der Schwebe zwischen Verfall und potenzieller Umnutzung befindet, werden kombiniert mit dem Saxofon, einem Instrument, dessen Erfindung und Entwicklung historisch mit der Industrialisierung Europas zusammenfällt, und dem Theremin, jenem emblematischen Vorläufer digitaler Soundtechnologie. Echos der Vergangenheit treffen auf akustische Vorzeichen der Zukunft. Und wenngleich die Ausgangsklänge an einem sehr klar definierten Ort aufgenommen wurden, geht es in dem Stück um einen Prozess, der nicht auf diesen Ort beschränkt ist, sondern der sich in ganz Europa abgespielt hat – ein weiterer Grund, warum das Radio sich als idealer ‚Ort’ für diese ‚ent-ortete’ Geschichte darstellt.

Links:
Ursendung 29. Mai 2015, 22:00 Uhr –im “Radioatelier” auf Radio Vltava (Tschechische Republik)