Sonntag, 19. Juli 2015, 23:03 - 23:59, Ö1

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KUNSTRADIO - RADIOKUNST




an ear for an eye
Teil 1
curated by Lilian Zaremba



Die brasilansche Bildende Künstlerin, Radiokünstlerin und Radiomacherin Lilian Zaremba, die ihre eigene wöchentliche Radiosendung Radio Mirabilis auf MEC-FM in rio de Janeiro.

Für das Ö1 Kunstradio hat sie die Reihe an ear for an eye entwickelt, in der sie das Verhältnis zwischen dem Ohr und dem Auge untersuchen will und sich mit folgenden Fragen auseinandersetzt: Was schliesst unsere Augen? Was öffnet unsere Ohren?

Zur Erforschung dieser Fragen hat sie folgende Künstlerinnen eingeladen:

Den Poeten und Performer Alex Hamburger; die Bildende Künstlerin und Poetin Lenora de Barros; die Musiker und Soundkünstler Marco Scarassatti, Vivian Caccuri und Thelmo Cristovam; Radiokünstler und Featuremacher Julio de Paula; sowie die Musiker Cadu Tenório und Grupo Dedo.

Lilian Zaremba hat für den ersten Teil ihrer curated by - Serie “an eye for an ear” drei Arbeiten des Klangkünstlers und Komponisten Marco Scarassatti ausgewählt.

1. Memória do Fogo [Memory of Fire / Erinnerung an das Feuer] (16’02’’)
2. Rios Enclausurados [Cloistered Rivers] (16’25’’)
3. À deriva [Adrift] (13’37’’)

1. Memória do Fogo [Memory of Fire] (16’02’’)

 

sound PLAY

In der Küche wie auch in der Musik vollziehen sich alchemistische Prozesse, werden Elemente umgewandelt. Vom Gewöhnlichen zum Außergewöhnlichen: aus Grundnahrungsmitteln werden Gerichte, und aus Klangeinheiten entsteht Musik.

Marco Scarassattis Memória do fogo handelt von diesen alchemistischen Vorgängen und der Transformation der Elemente. Es geht um die akustischen Erinnerungen an das Feuer, um die Transformationen durch das Feuer. Küchenklänge und -geräusche, unter anderem von Töpfen und Pfannen, in denen verschiedene Gerichte gekocht werden, fügen sich zu einer musikalischen Montage. Memória do fogo fängt die Klänge des Feuers ein, hält die Erinnerung daran fest. Aus den Klängen und Geräuschen wird Musik abstrahiert, die wie Rauch aus den Pfannen steigt.

2. Rios enclausurados (Enclosed Rivers / Eingesperrten Flüsse)

sound PLAY


Gegenstand dieser poetischen wie auch politischen Klangarbeit sind die Bäche und Flüsse, die unterirdisch in künstlichen Kanalbetten durch Belo Horizonte verlaufen. Das nahezu 150 Kilometer lange, weitverzweigte Flusssystem, das diese brasilianische Stadt durchzieht, ist nämlich im Zuge verschiedener Regulierungsmaßnahmen in lange, dunkle Verliese gesperrt worden. Nur durch Eisengitter in der Straße kann man heute einen Blick auf die eingesperrten Bäche und Flüsse werfen.

Die klangliche Fülle dieser Arbeit bringt jene Verliese der Stadt zum Vorschein, in denen Gefangene vergessen wurden, hat man sie doch bei städtischen Bauarbeiten verschwinden lassen und zum Schweigen gebracht. Geht man jedoch ganz nah an die Eisengitter heran, spürt man sogleich die Kraft und Erhabenheit, die in einem Fluss steckt: er könnte jederzeit anschwellen, aus seinem Gefängnis ausbrechen und seinen Verlauf selbst bestimmen.

Seinen Anfang nahm dieses Projekt in meinem ersten Jahr in Belo Horizonte. Beeinflusst von der Theorie der dérive, d.h. der Praxis des Erkundens einer Stadt durch „zielloses Umherschweifen“, wurde ich eines Tages auf einem meiner Streifzüge auf einen Klang aufmerksam, der in einer der Hauptstraßen aus dem Untergrund drang. Ich näherte mich einem vergitterten Schacht in der Straße und war dann einigermaßen überrascht, was ich dort zu sehen und zu hören bekam. Von nun an achtete ich ganz bewusst auf dieses Phänomen und ich stellte fest, dass es in der ganzen Stadt solche Abdeckungen in den Straßen gibt. Ich fing an, die Sounds der Flüsse aufzunehmen, wobei ich das Mikro einfach zwischen die Gitterstäbe hielt – ich machte das fast immer allein, obwohl einige Straßen als gefährlich galten. Im Jahr 2012 arbeitete ich dann mit Fernando Ancil, einem befreundeten bildenden Künstler. Gemeinsam schufen wir eine Sound-Installation entlang der Avenida Afonso Pena, einer der Hauptverkehrsadern der Stadt. Mit über 40 Lautsprechern, die wir im Abstand von 350 Metern entlang der Straße positionierten, holten wir den Fluss gleichsam an die Oberfläche. Durch dieses akustische Über-die-Ufer-Treten sollte der Bevölkerung die Möglichkeit gegeben werden, den Fluss wieder in der Stadt zu hören.

Für das 2015 von Seminal Records veröffentlichte Album Rios enclausurados habe ich die Aufnahmen von verschiedenen Flüssen und Bächen bearbeitet und mit diesem Material zwei Tracks komponiert. Ich glaube, dass die Stücke ein konzentriertes Zuhören erfordern. Jenseits allgemeingültiger musikalischer Prinzipien wird hier in einer interventionistischen Weise der Frage nachgegangen, wie eine Stadt klingen kann. Die Tracks machen hörbar und erfahrbar, was aus dem urbanen Alltagsleben längst verschwunden ist.

3. Soundpostkarte:
Driften auf dem Bahnhofsplatz,
Belo Horizonte, Brasilien

sound PLAY


Die wichtigste Inspirationsquelle für dieses Projekt war die von der Situationistischen Internationale entwickelte Theorie der dérive, die eine experimentelle Lebensweise und Technik vorschlägt, um mit der Rationalität der vorherrschenden Raumgestaltung zu brechen. Dieses „ziellose Driften in urbaner Umgebung“ wurde von den Situationisten praktiziert und von Guy Debord in einem in der Zeitschrift „internationale situationniste“ erschienenen Artikel ausführlich beschrieben. Darüber hinaus lässt sich auch ein Bezug zu den Soundwalks von Hildegard Westercamp herstellen, nur mit dem Unterschied, dass es bei unserem Projekt keine zuvor festgelegten Routen gab. Für unsere Klangspaziergänge habe ich zudem aus PVC-Rohren, Schläuchen, Hörnern, Siphonen und Dämpfern spezielle Hörgeräte entwickelt, die als akustische Filter dienen und in Schutzhelme integriert wurden. Dieser Helm, der den Namen „Hörhelm“ erhielt, verändert unsere akustische Wahrnehmung, weil Klänge und Umgebungsgeräusche nicht nur in gefilterter Form, sondern durch ein röhrenförmiges Objekt auch direkt in unser Ohr dringen und wir so neue Hörerfahrungen machen können. Die Verschiebung unseres akustischen Fokus scheint wiederum die Funktionsweise unseres ganzen Wahrnehmungsapparates allmählich zu verändern, bis wir uns schließlich in ein großes, lauschendes Ohr verwandelt haben. Der Einsatz des Helms bei unseren Klangspaziergängen bewirkt somit ein aktives Hören.

Ich habe einer Gruppe von Studenten und Studentinnen der bildenden Kunst und der Musik diese situationistische Praktik vorgeschlagen. Für das Projekt habe ich einen Ort gewählt, der von den verschiedenartigsten Klängen und Geräuschen erfüllt ist und an dem man ungezwungen herumspazieren kann: den Bahnhofsplatz. Zunächst empfahl ich den Teilnehmern und Teilnehmerinnen, den Hörhelm aufzusetzen, um den Klängen und Geräusche des Platzes zu lauschen und sich von jenen, die ihre besondere Aufmerksamkeit erregten, stimulieren zu lassen. Der zeitliche Aspekt wurde dabei völlig ausgeklammert, das Wichtigste bei diesem Projekt war schließlich, sich von den Klängen der Stadt treiben zu lassen. Während sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen das erste Mal über den Platz bewegten, wurden keine Aufnahmen gemacht, damit die aufmerksam Lauschenden keinesfalls durch das bloße Vorhandensein eines Mikrofons in Zugzwang gerieten und meinten, etwas produzieren zu müssen. Ich wollte, dass sie sich auf ganz neue Hörerfahrungen einließen, bevor es ans Aufnehmen ging.

Als sie von ihren Rundgängen zurückkehrten, gab es ein Treffen, bei dem wir die eingeschlagenen Routen diskutierten. Danach schlug ich ihnen vor, dieselben Wege noch einmal abzugehen, dieses Mal aber auch Aufnahmen zu machen. Es schien, als hätte das erste Hörerlebnis eine ephemere akustische Spur hinterlassen, der man beim zweiten Rundgang nur mit dem Mikrophon zu folgen brauchte. Das aufgenommene Material wurde von mir zu einer Klangpostkarte montiert. Es ging mir dabei aber nicht einfach um eine statische Soundscape, sondern um die Verbindung der Bewegungen und akustischen Entdeckungen der beteiligten, ruhelosen Drifter und Drifterinnen. Es ist daher eine komplexe Postkarte geworden, die nicht nur verschiedene Hörweisen präsentiert, sondern auch die voneinander abweichenden Pfade, denen man auf ein und demselben Platz folgen kann, akustisch abbildet.