Sonntag, 4. Jänner 2015, 23:03 - 23:59, Ö1

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KUNSTRADIO - RADIOKUNST




„Fortuna“

von Isabella Bordoni und Christian Mastroianni


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"Fortuna" heißt ein poetisches und theatrales Projekt der Dichterin, Schauspielerin und Künstlerin Isabella Bordoni, das aus dem Theaterprojekt „Sequenze in 6x6“ hervorgegangen ist.
Isabella Bordoni wurde 1962 in Rimini geboren. Gemeinsam mit Robert Paci Dalo hat sie von 1985 bis 2000 das Theater- und Medienkunstprojekt Giardini Pensili betrieben, sie hat geschrieben, gespielt, performt und Regie geführt. In dieser Zeit hat sie auch an großen, vernetzten Projekten des Kunstradios teilgenommen, etwa an Radiobeams, Horizontal Radio, Lost Memories und Realtime.
Als „Grundlagenforschung des Wortes“ hat sie ihr künstlerisches Anliegen beschrieben. Ihre Aufmerksamkeit gilt auch der kompositorischen Beziehung zwischen Wort und Klang. Das neue Stück von Isabella Bordoni, „Fortuna“, wird von ihrer eigenen Stimme getragen – die Radioversion wurde vom Musiker und Komponisten Christian Mastroianni vertont. „Fortuna“ entstand aus dem Theaterstück „Sequenzen in 6x6“, das Isabella Bordoni 2006 geschrieben hat und das bei seiner Aufführung von Stefano Scodanibbio am Kontrabass live begleitet wurde. „Fortuna“ ist eine Reduktion des originalen Textes, eines langen Gedichtes, in dem es um Kindheit und Geschichte geht. Auch die Erinnerung ist ein wiederkehrendes Thema in Bordonis Arbeiten.

Stimmen: Vera Albert, Isabella Bordoni und Aimie Rehburg
Übersetzung: Helga Pöcheim


„Fortuna“ (aus: „Sequenzen in 6x6“)
Isabella Bordoni

La ferocia prelude al pentimento.

Grausamkeit kommt vor der Reue.
Die Frau öffnet einen Spaltbreit die Balkontür, die nach Südosten in den Garten geht,
eine Geste, die “wart auf mich” bedeutet.
Dass das erste Licht die Sehnsucht nach dem Schlaf bewahren kann,
das ja, das wusste sie schon.
Dass die Stoffe auf dem Tisch erst bei Tagesanbruch wieder ihre Farbe annehmen,
auch das war ihr vertraut.
Sie ist ein Geschöpf, das nachts wach ist,
sie wacht über den Atem damit er nicht versiegt.
Sie bewohnt die dunklen Räume hier und erfindet Farben. In jenem Zimmer
kommen nach und nach Versatzstücke von Zeit zum Vorschein, verkommene Halbschatten springen ihr wie kleine Stofffetzen aus den Rockfalten entgegen,
während sie die Hände um die Wölbung ihres kleinen Bauches legt.

“Wart auf mich”.



Hast du gesehen?
Wie der Regen die quälende Sehnsucht des Fensterrahmens auf die Scheiben stickt?
Wie der ungewöhnliche Kinderreim die Stimme im Hals ergreift?
Du hast viele Fragen, auch jetzt wo es Tag wird
ein kalter und sonniger Tag.
Heute regnet es nicht.
Es regnet nur auf ein wildes ungezähmtes Kinderherz.
Du zähmst mich mit Kleidern, die eine klare Sprache sprechen,
Rechtschaffenheit und Anstand.
Vor der Terrassentür der Garten und die Rosenbeete.
Die geschlossenen Hotels sagen, dass der Herbst da ist.
Alles um sie herum sagt, dass es bereit ist für die Sonne.

A. hat mir einen weißen Kragen genäht.
Ich bin sauber.
Ein sauberes kleines Mädchen, ich bin ein weißer Kragen, ein gestickter Streifen auf der Schuluniform und ein Buchstabe,
ich bin die Ungeduld des Tages der endlich strahlen will,
ich bin das Getrappel von neuen Kinderschuhen,
ich bin die Naht an einer alten Schultasche, braunes Leder, die werde ich auch später nicht aufgeben wollen.
Heute ist der Tag an dem sich das Schicksal meiner Kindheit vollzieht.
Heute gehe ich aus dem Haus, meine Hand in deiner überquere ich die Straße.
Heute steh ich am Rande jener Regeln, die ein braves und anständiges Mädchen aus mir machen, heute stirbt das wilde Kind.



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