Peter Pessl:
„Sehe ich mit den Augen der anderen“

Dialogtext in vier Bildern, radiophon

                     


1
Der schwarze Rahmen des Bildes
beweist die immense Masse des Unsichtbaren,
sagst du, die Über-Menge der Toten,
die Leichen-Alpen,

Die Einschränkung gerade beweist das Ausmass,
sage ich,

Dieser ins Bild ragenden Zunge,
eines Leichen-Gletschers,

Verschmolzen die Körper zu Eis,
das sich, zirpend, im Millimeterbereich bewegt,
und Gallerte, milchweiss, unter einer hauchdünnen Sonne,
die sickert,
und fliesst bis ins Innerste eines toten Planeten,

Sagen könne man nichts über das Töten,
so habe ich gehört,
und "das Unfassbare",
"der grosse Fehler", wie du sagst,
sei nicht darstellbar,
aber da liegen die rauchenden Toten vor mir,
offen, unverdeckt, aufgedeckt!,
die eben noch purzelnd,
die Gruben bis an den Rand gefüllt,
das Sprechen bis zum Erbrechen
geleert,
und hervorquellend:

Der schwarze Rahmen, eng gezogen,
als Verschluss,

Und doch nicht eng genug um nicht sehen zu müssen,

Im Gegenteil: Das Sehen reizend,
mit der Aussparung,

Der Rahmen als Höhleneingang der Gaskammer,
Krematorium 5, Auschwitz-Birkenau,
in den der vor den nahen Mördern fliehende,
taumelnde Fotograf,

Nennen wir ihn Alex, warum nicht?

Aus der weit geöffneten Leichen-Lichtung zurückgetreten ist,
aus dem Gleissen,
dem unerträglichen Licht einer Wahrheit
aus der Himmelshöhe?, der Erdentiefe?,
einer alle anderen Wahrheiten zerstörenden Über-Wahrheit,

Woher und wozu?

Zurückgetreten in den Eingang zur black box,

Eines geschwärzten Jahrhunderts,

Der gesamten, verbrannten Menschen-Geschichte!

Von dort aus sehe ich die Verbrennungs-Szenerie,
von der Müdigkeit ausgeht,
Schwäche, Betäubung, Todes-Demenz,

Verschwommen, wovon?

Oder erst verschwimmend im Moment der Aufnahme,
im Auslösen des Bildes:
die finale Blendung des Auges,

Sehe ich mit den Augen der anderen?,

Deren letzte, ineinander verklammerte Blicke,
das Blicknetz der Sterbenden im Dunkel der Gaskammer:
Haarbüschel und Schrei,
Hautfetzen und Schwarz,
in der umfassenden, gültigen Schwärze,

In der nicht gütigen,
aber umfassenden Widerschwärze,
die aus jener ersten Schwärze hervortritt,

Eine Todes-Schwärze,
des Menschen-Exkrements,

Und nach draussen geschleppt auf die Leichen-Lichtung
weist ihr gebrochener Blick in einen weissen Himmel,
darunter die vagen Baumkronen eines
bemühten Nadelwaldes,
der im Hintergrund der Brandstätte, beinahe zögernd,
aufsteigt,

Die Leichen-Lichtung als die Lichtung der Erzählung,
jeder Erzählung,
als Lichtung der Fragmente,
dabei jede Erzählung als loser Fetzen,
und als Menschen-Fragmente die Wahrheit!

Als Menschen-Fetzen die ganze Wahrheit!

Und, so sagst du,
zeigen gerade jene Fetzen, Residua, dir
die ganze Wahrheit des Tötens,
und des Getötetwerdens,
der beinahe geringfügige, im Schmelzen befindliche Leichenhaufen
alle Ermordeten,

Und es sei gerade das Verschwommene des Bildes,
eines zitternden Auges, das nachlässt im Schrecken,
eines Kamera-Auges, das blind wird,

Das dir Klarheit vorbringt!

Das allein mir Klarheit einbringt!

Dabei ist nicht erkennbar,
ob die Getöteten Männer oder Frauen sind,
alt oder jung,
nur nackt sind sie alle,
eine erzwungene Nacktheit bei äusserster Obszönität
des weissen Fleisches,
das aufblitzt,

In Schwarzweiss die Spielfiguren,
die Lichtung das Spielbrett,
die Noch-Lebenden, im Brandgestank
zur Wühlarbeit an den Schon-Ermordeten Gezwungenen,
in Schwarz,
die Nicht-mehr-Lebenden, im Erdreich Versinkenden,
in Weiss,

Bekleidet nur die Noch-Lebenden, die von hinten zu sehen sind,
ihr Blick uns abgewandt, die Augen zu Boden gerichtet,
volle Konzentration auf die Arbeit des Tötens,

Die getan werden muss,
und wird, wie man sieht,
den Blick auf die graue Mutter-Erde gerichtet,
die raucht, und hochqualmt,
eine weisse Rauchfahne, die auftaucht,
solange die Leichen-Substanz noch nicht von den Flammen erfasst ist,
so sagst du,

Während der gebeugte Zerrende,

Während einer der Arbeiter, von, in der Trauerhaltung,
mit hängenden Schultern dastehenden Arbeitern umstanden,
eine der Leichen am Arm zerrt,

Ein anderer den Oberkörper einer zweiten anhebt,
einer Menschen-Folie,
Menschen-Abrieb,

Während der Zerrende schon tot ist,
sagst du,
seine Bewegung in Wahrheit schon Vergangenheit,

Der andere lebende Tote aber,
der Fotograf, der,
wir nennen ihn Alex, oder Alberto,
in den Schatten der intimen Gaskammer zurückgetreten ist,

Die zugleich ein mondänes Lichtspielhaus ist,
das schwarze Lichtspielhaus der Menschen-Geschichte,
sagst du,

Zurückgetreten in den Schutz der Gaskammer!,
sagst du,

In einen Schutz, den es nicht mehr gibt,
in den Schatten, eines guten Abends,
einen mir vertrauten Rembrandt-Schatten,
der noch sichtbar als Dominante des Bildes,
Rembrandts gütige Dominante!,
schon verdampft ist,
aufgehoben,

Von blendender Scham,

Vom Gleissen des Verbrechens,
Es sei das unabsehbare Verbrechen,
nicht jedes Verbrechen, sagst du,
allein das ganz und gar unvorhersehbare, unausdenkbare Verbrechen,
das den Wirk-Raum der Menschen-Welt aufhebt,
löscht,

Die Menschen-Figuren löscht,
die Wirk-Wesen, deine und meine,
die Wirk-Dinge, meine und deine,
alles und alle!

Die Weltordnung blendet und auslöscht,
und zwar für immer!

Die innere Ordnung dieses ersten Bildes aber ist gestört,
in Frage gestellt,
durch ein beginnendes, angeschnittenes, zweites Bild
am linken Rand,

Oder ist es ein drittes?, viertes?

Die innere Reihenfolge der erzählten Geschichte ist nicht geklärt,

Die Bildfolge springend zwischen eins und vier,

Und kann so beliebig getauscht werden,
sage ich,

Also ein von dir schon immer erträumtes, variables Erzählen!
Das Gewebe der Erzählung geöffnet!
Die Fäden gelöst!

Wie immer!

Dann sagst du:
Jedes Erzählen leitet sich von den Getöteten ab,

Also ohne Getötete kein Erzählen,
sagst du,

Und von den Mördern,
und vom starrenden, geleerten Blick desjenigen der,
für den Moment,
überlebt hat,

Obwohl er längst tot ist,
und weiterspricht,
die Erzählung beginnt,

Glaubt, dass er überlebt,
überlebt hat,

Oder nicht glaubt, überleben zu können,

Aber doch eine Erzählung beginnt,
als das Allerletzte,

Ein Baumstamm, opak,

Woran gelehnt?

Und irisierendes Birkenlaub,

Die wehende Birke, will ich noch sagen,

Ein Vollmond!

Und wilde Zacken!

Eines scheibenförmigen Götter-Angesichts?

Wessen und woher?

Eines Kürbisgesichts, eher!

Im äussersten Eck des ersten Bildes von der Menschen-Vernichtung:
Der Kürbisgott.

2
Der schwarze Rahmen des Bildes geradegestellt,

Tritt der Fotograf vor,

Aus der Grabeshöhle der Gaskammer,

Ihrer Bemalung aus Haar,
aus Schreien und Kratz-Blut,
Exkrementen, miteinander vermischt,

"Im Waldesschatten ich",

Und löst den Abzug der Kamera,
die im doppelten Boden seines Putzeimers
versteckt,

Die Verbrennungs-Szenerie ein zweites Mal
aufnimmt,

Dabei ein klein wenig dreht, scharfstellt,

Klärt?

Wodurch was wir sehen aber
definitiv abnimmt!

Die erwartete Klärung ausbleibt!

Die vor unseren blinden Augen,
in unserer Abwesenheit weitergelaufene Szene zeigt uns
die Bleistift-Toten,

Griffel, sagst du,
Schreibstifte, die übereinander,

Und Teigfiguren,
die ineinander verschlungen,

Ruhen, sage ich,

Ausruhen,
wie nach einer beinahe unmöglichen Anstrengung,

Der immensen Anstrengung des Todes,

Dabei, der noch grösseren, des Getötetwerdens,

Unter einem grossen, gütigen Himmel ausruhen,
sagst du,

Gütig?, wie und woher?

Wenn wir lange starrend warten,
in den Knicken der Körper
erscheinen Schriftzeichen,

Du sagst, eine Leichen-Schrift
in der wie zufälligen Legung der Leiber,

Das Knochenorakel, sage ich,
wird mit Rabenknochen,
wenn man hat mit Menschenknochen

Gespielt, sage ich,

Wie im Spiel die schwankende Figur
des Leichenträgers,

Im weissen Hemd,
die Ärmel aufgekrempelt,

Dessen balancierende Arme ein
unmögliches Gleichgewicht zwischen den
ihn ins Schwanken bringenden Körpern halten,

Greift seine rechte Hand nach der
Vertikalen,
die das Bild von oben nach unten durchschneidet,

Dabei, zu unserer Überraschung, knickt,

Die Vertikale, die inzwischen
der sich in ihrer heissen Mitte
schwärzenden Rauchfahne folgt,

Und dort wo die Leichen,
endlich von den Flammen erfasst,
explodieren!

In den Weiss-Himmel fährt,
Dabei das wartende Wäldchen verdeckend,

Zwei erkennbare Stämme mit Kannelüren,
bei klassischer Bildfügung,
löschend auch,

Das Donnern des Rauchs,

Das Prasseln der senfgelben Luft,

Und Gestank weht heran,

Vor dem die tanzende Spielfigur
zurückweicht, sagst du,

Ihre linke Hand stützt sich
auf den Ermordeten ab,

Zieht am Haarschopf eines Kindes?

Während eine zweite links von ihr,

Der alte, gebeugte Bettler,
mit seinem Stab,
den er vor sich in eine Lücke zwischen die Leichen
gesetzt hat,

Mit der Stabspitze
ein Papier vergräbt,
welche Nachricht?,
an die Nachgeborenen,
Totgeborenen,
welche geheime Erzählung?

Dann in einer formellen Demutsgeste
um ein Almosen zu bitten scheint,
das möglich ist,
das er für möglich hält,
das es gibt,

Das es doch an diesem allerletzten möglichen Ort
nicht mehr geben kann!

Während er den Spieler in der Bildmitte,
der auf die ganz nahe Flammenwand zugeht,
auf einen schwarzen Fetzen
hinweist,

Der, von ihm unbemerkt,
über seinem Kopf hochgestiegen ist,
fliegt,

Der schwarze Fetzen der Erzählung!

Und der Fragment-Fetzen der Menschen-Geschichte!

Wir haben lange gewartet!

Um ihn einmal fliegen zu sehen!
Für immer an den leeren Raum geheftet
steht er über dem Spieler still,

Von dessen Kopf er auszugehen scheint,

Und ist doch Teil einer noch weissen Rauchfahne,
die in der Diagonalen des Bildes,

Von links unten nach rechts oben,

Und zu Füssen des Bettlers
hervorquellend, aufsteigt,

Die Zuseher aber,
sechs an der Zahl,
sagst du, der Chor,

Eine sanfte, melancholische Gruppe,
bei wiederum klassischer Bildfügung,

"Die guten Hirten!"

Stehen am rechten Rand des Bildes,

Versunken, einander zugewandt,

Der Verbrennungs-Szene abgewandt,

Aber doch mitten unter Leichen,

Also ganz unter ihresgleichen,

Die sie anstarren,

Die angestarrt werden,

Und: wer starrt auf wen?

Ich sage: Jedes Sehen gehört den Toten!

Die sie zu betrauern scheinen,
soweit die Arbeit, die getan werden muss,

Und getan wird,
das sieht man!

Das zulässt,

Greift der eine, ganz Schwarze sich an den Kopf,
wie im Erkennen eines grossen,
nicht begreifbaren Unglücks,
über ihm fliegt ein schwarzer Brocken,
ein Ball?

Der andere, den Blick zu Boden gewandt
und völlig in sich gekehrt,
du sagst: verkehrt,
die Hände in die Hüften gestützt,
du sagst, trägt Turban,
der Muselman,
Ein anderer, mit der Kappe, spricht ihm zu,

Die beinahe hörbare Güte der letzten Worte!

Während ganz am rechten Bildrand ein weiterer
auf die Knie gesunken erscheint,
im Amorphen wartet, stillsitzt,
was wir so nicht glauben,

Wie wir vieles nicht glauben,
von dem, was erzählt wird,

Was wir, Zweifel vorbringend,
bei Dunkelheit, ihren Sonnen,
vortragen,

Und zwei oder drei Kameraden ihn trösten,

Oder warten sie nur bis es aufhört?,
der Leichenhaufen,
bearbeitet,
nachlässt?

Neue zu holen sind,

Erst zu schaffen sind,

Mit Bedacht?

Und der einzige Beobachter im Dunkel der Gaskammer,
der Bildgeber,
wir nennen ihn Alberto Errera,

Warum nicht?

An Flucht denkt,

Weigerung,

An ein Weiterhasten schliesslich,

In ein allerletztes Schlussbild?

Körnig der Weg vor ihm,

Wir sehen die staubige Reifenspur,
den Sichelschatten, Krümel, Gestein,

Die Oberfläche eines fremden, toten
und weitentfernten Planeten,

Wäre da nicht der leicht gebogene Ast,

Ein Zaunpfahl?

Ein Bumerang?

Sehe ich mit den Augen der anderen,

Der Menschen-Geschichte?
3
Das dritte Bild,

Oder ist es das erste unserer kleinen Serie:
"Nach der Natur" ?

Es ist mein bevorzugtes,

Sag das nicht!

Ich weiss, es ist auch dein bevorzugtes,

Sag das nicht so!

Es liegt beinahe quer,

Der schwarze Rahmen weit zurückgedrängt,

Der Verschluss
also fast vollständig geöffnet,

Dabei in sich noch fester verschlossen als die beiden ersten,
beinahe völlig unsichtbar,
blicklos gar,

Ein Über-Licht geht von ihm aus,
ein allerletztes Strahlen,

Vor der totalen Verdunkelung,
In der Todes-Starre,

Und das bei der extremen Bewegung,
der Protagonistinnen,
die in ihm vorherrscht,

Ich muss es sagen:
Eine bittere, dabei
süsse Laufbewegung,

Süss und bitter?

Nur bitter!
Die du, sie aussprechend,
sofort abbrechen willst,

Brich ab!
Brich, endlich, hier, ab!
Ich bitte dich!

Was mir doch unmöglich ist,
im Gegenteil, ihre Fluchtbewegung
hält für immer an,
bis zum Ende der Menschen-Geschichte,
auch ohne mich,
mein zögerndes Zutun,

Dabei fast auf den Kopf gestellt das Bild,
aus dem Lot gekippt,
kreiselnd,
Darin ein von einem Vorhimmel,
Nachhimmel, der nicht mehr trägt,
erträgt,
auf die graue Mutter-Erde zu stürzender,
in Fetzen gehender
Rabe,

Zu allerletzt
ein Mutter-Rabe als ewiger Bote
Europas toter Fetzen-Götter,

Oder sind es mehrere?,
dann gesprengt,
ihr Federnregen als letzte Botschaft,

Welcher Text?, an wen?

Der Nachhimmel jetzt beinweiss,
dein Lieblingswort an dieser Stelle,
lass es sein!

Sprich lieber von dem Birkenwäldchen,
das diese letzte Spiel-Szene beschliesst,
hinter die nackten Frauen tritt in einer fühlbaren Bewegung,
und rahmt,

Umarmt?

Ein wenig schützt,
sagst du,

Im absolut Schutzlosen,

Zerzaust die Birken,
ihrerseits zarte, zögernde Mädchen-Figuren,

Sprich von dem letzten Wäldchen der Menschen-Geschichte,
auf das wir immer gewartet haben,

Damit du nicht weitersprechen musst!

Und vergiss nicht das im Hintergrund zwischen
den Bäumen wartende Krematorium,
sein dicker, kurzer Schlot,
beinahe von einem Baumstamm
im Vordergrund des Bildes gnädig verdeckt,

Sprich weiter!

Die bittere Laufbewegung aber
der vollkommen nackten Frauen,
die in einer Gruppe von etwa zwanzig,

Sagen wir zwanzig,
vor steingrauem Konglomerat,

Die du erkennen kannst,

Die ich als lebendige Leichen identifizieren kann,

In mehreren Wellen,

Was meint Wellen?,
Angriffswellen?

Meereswellen, etwa,

Mit blossen Füssen über den Waldboden
auf den Eingang der stillen,
Dampf ausstossenden Gaskammer
zulaufen,

Den der Fotograf inzwischen verlassen hat,

Auf Splittern, splitternackt,

Die Füsse knickend, strauchelnd auch,

Getrieben werden, sage ich,

Ihre ungeheure Frauen-Schönheit,

In jenen letzten Momenten,

Wie ist hier noch Schönheit möglich?
An und in Leichen?,
sagst du,

Erzähl, was du wahrnimmst!

In einem fast völlig verschlossenen,
blicklosen Bild,

wie wir gesagt haben,

Erzähl, was du findest!

Vorfinde ich aber
das geschwärzte Gesicht der einen, rechts vorne,

Den beiden anderen, links vorne, zugewandt,

Die auf gleicher Höhe,

Im Gleichschritt,

Vorwärtsdrängen,
in einem Blind-Lauf,

Wie in einem Sprint,

Die lange Strecke, sage ich,

Und ihnen zuruft, was genau?

Nennt sie ihre Namen?

Oder ist es nur ein wilder Schrei?

Von Bacchantinnen der Wälder,

Der Mutter-Wälder eines toten Europas,

Die explizite Nacktheit der Frauenfront,
ihre Blendung jedes Betrachters, sagst du,
meint die Blickblendung,
die von einer alten Göttin ausgeht,
die die Zerreisserin
genannt wurde,

Etwa, die Grausame,

Mit ihren Gefährtinnen,
Baumfrauen, Nymphen,
Furien,

Die Zerreisserinnen der Menschen-Geschichte,
der Menschen-Welt,
noch einmal, an ihrem Ende,

Und der fliehende Fotograf,
wir nennen ihn Alex,

Oder Alberto?

Alex Alberto Herrera,

Warum denn nicht?
Der diesen späten Frauen in einer horizontalen Bewegung,
die das Todes-Bild durchschneidet,
zufällig, so scheint es, begegnet,
Blind den Auslöser seiner Kamera drückt,
die er versteckt am Körper trägt,

In der Hoffnung die Vernichtungs-Szenerie,
obwohl abgewandt,
zu erfassen,

Abgewandt,
und doch hat er etwas gesehen,
er ist kein Jäger,

Ein Sänger?

Musikant?

Etwas, das er nicht sehen durfte,

Das niemand je sehen dürfte,

Wäre es nicht, zwingend,
vor unseren Augen, zu sehen,

Während wir es verdecken,

Uns verzweifelt Mühe geben
das Bild zu verdecken,

Ringt er,
auf uns zulaufend,
ein schreiender, irregewordener Orpheus von Birkenau
die erhobenen Hände,
Bevor er von den umherirrenden Frauen
zerrissen wird,

Seine blutigen Glieder weithin
über den Waldboden ausgestreut,
Kotbrocken, Veilchen,
Haarteile,

Rahmen Stämme und
mächtiges Astwerk diese definitiv letzte Szene
der Menschen-Geschichte,
in der noch Menschen auftreten,
in der, noch einmal, zum Abschied,
die reine und vollkommene Frauen-Schönheit auftritt,

Verschlucken Stämme, Astgabeln,
verdunkeln,

Gnädig?

Die meisten der hinteren Läuferinnen,
die kriechend, schwimmend
über den Erdboden,

Höchst unsichere Gemengelage,
sagst du,

Ungnädig!

Der Schwärze der Gaskammer zustreben,
Verzweifelt wegstreben!

In einer deutlich sichtbaren Rückwärtsbewegung!
                                                                     
Einem Rückspulen des Bildes,

Durch wen?

Auf die erstaunten Mörder zu,

Die doch unsichtbar bleiben,

Erwähnen musst du noch die letzte Läuferin,
weil ich sie sehe,

Rechts vorne,

Unten vom schwarzen Rahmen des Bildes beschnitten,

Also fusslos,

Fragment einer Statue?

Trägt sie ein ebenfalls schwarzes, eng anliegendes Kleid!

Wie kann das sein?

Ich sehe den Träger auf ihrer linken Schulter,

Den Handschuh,

Beinahe die Handtasche,

Festgeklemmt unterm Arm,

Ihr blondes, fliessendes Haar,

Der knisternde Haarschopf,

Welcher späten Gottheit?

Welcher rächenden Furie?

Die, ein wenig nur von der Vernichtungs-Szene abgerückt,

Den Fotografen entdeckt,
ihn ansieht,

Als Bildnehmer ausdeutet,

Das Bild, das er mit sich nimmt,
den verbotenen Blick,

Das Haar verdeckt ihr Gesicht,
den zu allem entschlossenen Gegen-Blick,

Wozu entschlossen?

Im Verschlossenen?

Zum Schuss?

Zum Abschluss!
4
Das letzte Bild
der Menschen-Geschichte
ist ein Bild ohne Menschen,
wie wir gesagt haben,

Es gibt in ihm weder Götter
noch Menschen,

Keine Spuren von ihnen,

Keine Fetzen, Fragmente,

Nicht einmal Anti-Götter,

Nicht einmal Anti-Menschen,

Keine weissen Kadaver sehe ich,

Keine Mörder im Hintergrund,

Den blinden, griechischen Fotografen sehe ich nicht,

Und die Fetzen-Erzählung von der Vernichtung,

Sehe ich mit den Augen der anderen?,

Zweiten, der Leichen,
Die in einem fort in den ersten,
den Gerade-noch-Lebenden verborgen sind,

In den Gerade-noch-Lebenden
geborgen sind,
allen Lebenden!

Oder ist es umgekehrt?

Durch sie sehen,

Und Zeugnis geben,

Nicht weniger, nicht mehr,

Wir hören den Schuss nicht,
der den fliehenden Fotografen trifft,

Der sich blutend aus dem Schlussbild
schleppt,

Wohin?

Dieses letzte Bild erscheint
vollkommen in die Horizontale gekippt,

Oder von einem am Waldboden Liegenden,
Sterbenden ausgelöst,

ein schwarzer Rahmen,
der Verschluss,

Du sagst:
Gnädiger Verschluss,

Ich sage:
Ungnädiger Verschluss!,

Nimmt den Grossteil der Bildfläche ein,

Die schwarz wird,

Schwarz bleibt,
wie man will,

Drei Viertel Schwarz,
am Ende,

Wir sehen einige der entlaubten Mädchen-Birken
in einer bedeutenden Abstraktion,
die den Betrachter,
jeden Betrachter,
gewinnt,

Am linken Rand aber eine scharfe Zacke,
auch Klaue,
die ins Bildinnere weist,

Es aufreisst,

Sodass wir sehen, was dahinter liegt,
hinter seiner Oberflächenfront,

Was vorkommt,
im Innersten des Bildes,

Bis wir im unteren Drittel
den gelockten Kopf
des griechischen Fotografen,

Blutend erkennen,

An einem Weiher,

Am Ufer eines schwarzen Weihers,
sagst du,

Wie er seit den Anfängen der Menschen-Geschichte
in den alten Wäldern Europas auftritt,

Als Spiegel,
sagst du,

Als Bad
und zugleich namenloses Geschlecht
einer alten Göttin,

Die hochaufgerichtet,
tausendäugig,
ihr Fleisch von weissestem Weiss,

Die grausam Wütende heisst,

Die die Jagdbeute Zerreissende,
Zerteilende heisst,

Und deren Bad in einem schwarzen Weiher,

Das, wie du sagst,
die Quelle aller Bilder ist,
aller Bildgeber ebenso,
aller Bildnehmer,

Zudem,
was uns trösten soll,
die Reinigung des Bildes,
aller Bilder!

Das Bad,
das der verzweifelt fliehende Fotograf
der Vernichtungs-Szene,

Als ein äusserstes Tabu,
aus einem blinden Zufall,

Oder aber aus einer bitteren Bestimmung heraus,

Gesehen hat,

Und schon auch,
solange er in diesem Todes-Wald sich aufhielt,
sehen wollte,

Vielleicht war es nicht nur das,
sagst du,

Vielleicht hat jene alte,
unzerstörbare Gottheit,
den Jäger auch, mit dem Wink ihrer
form- und sinngebenden Greifhand,
aufgefordert, mit ihr zu baden,

Was er getan hat,

Aus der extremen Anziehung des nackten,
weiss strahlenden Fleisches heraus,

Dem Gleissen,

Der Fragment-Erzählung,
das sie ausmacht,

Dem Weiss-Fleisch,
dem niemand widersteht
und jemals widerstanden hat
vom Anfang an der Menschen-Geschichte,

Und vielleicht wollte
er ein Bild sich machen
vom Bad der Göttin,
von der strahlenden, jungfräulichen Göttin selbst,

Von der den Zeichenwald
mit ihren Hunden durchstreifenden Läuferin,

Die Bilder jagt,
und blinde Objekte,

Wollte es mit sich nehmen zu den
Städten der Menschen,

Die überlebt haben,

Und dennoch Leichen sind,

Was unmöglich ist,
undenkbar,

Den Menschen gehört kein Bild!

Dieses Leichen-Bad ist in dem vierten
und allerspätesten Bild
nicht sichtbar,

Und du siehst es doch,
im Schatten,

In den drei Vierteln Schwarz,

"Noch einmal im Birkenschatten ich!"

Den Leichen-Weiher, den es dort,
in Auschwitz-Birkenau nicht gab,
sagst du,

Den es doch gab!

Sagen wir in Weissrussland,

in Trostenez, Blagowschtschina,

Haben wir mitgebracht:
Den sommerlichen Weiher, an dem
der Gaswagen ausgewaschen wurde,

Sonst schwammen dort
die Mädchen mit den Burschen,

Genannt wurde der Wagen:
"Der schwarze Rabe",

War die Wasserfläche des Weihers schwarz,
wie die Farbe unseres Schlussbilds,

Eine zweite, totale Schwärze,
die aus der ersten hervortritt,
die Todes-Schwärze,

Die die gesamte Fläche des Bildes einnimmt,

Die gesamte Oberfläche eines bis ins Innerste toten,
unbewohnbaren Planeten,

Wären da nicht,
wenn wir, im starrend Sehen, lange warten,
in das Astwerk hinein- und halbverwandelt Frauen,

Teil-Frauen,

Im Strauchwerk Knochenwerk,
Die grosse, stehende Nackte,
mit angelegten Armen,

Oder in die entlaubten Zweige geflochten,

Beinahe liegend,
horizontal,

Der Torso,

„So habe ich gehört“,
sagst du,
ganz wie in den Buddha-Sutras,

Das schöne Frauengeschlecht,

Und fast völlig verdeckt vom gültigen Schwarz,

Eine zornige Riesin,

Die Sonne ihres Fazials!