Peter Pessl:
„Sehe ich mit den Augen der anderen“

radio art piece
in Zusammenarbeit mit Michael Fischer
Kunstradio ORF 2014

                     


2007 stiess ich auf eine Publikation des französischen Kunsttheoretikers Georges Didi-Huberman mit dem Titel „Bilder trotz allem“ *, in dem er vier Schwarzweiss-Fotos * veröffentlicht, die als die einzigen von Insassen der nationalsozialistischen Konzentrationslager aufgenommenen und erhaltenen gelten dürfen (im Gegensatz zu einer wahren Flut von Täterbildern).
Diese Fotos zeigen das (eigentlich) nicht Abbildbare, das Unerhörte, das jenseits der Vorstellbarkeit dennoch Stattfindende aus dem Blickwinkel eines Häftlings mit bis heute nicht völlig geklärter Identität, der kurze Zeit später ermordet wurde, und stellen so singuläre Dokumente des Holocaust dar.
Huberman beschäftigt sich in seinem Buch mit der Frage der Darstellbarkeit des Holocaust, löste damit neuerlich eine intensive Debatte, vorallem in Frankreich, aus, und brachte auch mich dazu, mich (wieder) mit dieser Problematik zu befassen.
Sofort angezogen von der Einzigartigkeit der Bilder, die nicht sein dürften, aber dennoch sind und die, so denke ich, in ihrer Unerträglichkeit einen Blick in das Innerste der Wirklichkeit an sich zulassen, in die Zeit, den Anbeginn ebenso, wie in das böse Ende, die Vernichtung von allem, die Hölle auf Erden, und zudem das allzeit prekäre Verhältnis von Wirklichkeit und Abbildung exemplarisch thematisieren, entstand ein radiophoner Text, der einen Versuch des blossen Sehens, eines Ersehens dieser Bildern des absoluten Grauens mittels der Sprache der Dichtung darstellt, die mir, einer tieferen Wirklichkeit zugehörig als die Sprachen (etwa) der Wissenschaft, des Journalismus, als die Gebrauchssprache der alltäglichen Kommunikation, für ein solches Vorhaben als die einzig geeignete erscheint.
Von dieser Text-Basis ausschreitend entwickelte ich in den folgenden Jahren die Idee, den Text als Grundlage für eine Radioarbeit für das Kunstradio des ORF anzunehmen.
In enger Korrespondenz mit dem Text entstand ein radio art piece, das, mittels einer komplexen Partitur, selbst produziertes, sowie zitiertes, überarbeitetes, in einen neuen Kontext überführtes Soundmaterial verschmilzt.
Ein wesentliches Mittel der Soundbearbeitung, das ich nach der Realisierung der Partitur im Studio des ORF, sozusagen als „letzten Schliff“ anwandte, war dabei der, von mir für mich,  so genannte „Sebald-Effekt“: der bedeutende deutsche Prosaautor W. G. Sebald beschreibt in seinem Roman „Austerlitz“ * ein auf den Nazi-Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, in dessen Fragment der Protagonist des Romans seine von den Nazis ermordete Mutter zu finden versucht, bezogenes Verfahren der zeitlichen Dehnung, das ein Eindringen durch und hinter die Oberfläche des historischen Materials, Bild und Sound, erst ermöglicht, als ein langsames Vordringen in das Erinnern, das Wiederfinden ebenso, wie in das Verwechseln, Vergessen, Löschen, das Verfinden, in den monströsen Webtext der Zeit.
Diese Radioarbeit, in ihrer Studioversion auf der Homepage des Kunstradios verfügbar,verbindet sich in einer Live-Sendung aus dem Studio 2 des ORF mit Interventionen des experimentellen Musikers, Dirigenten und Soundperformancemeisters Michael Fischer zu einer
flüchtigen Einheit. Michael Fischers spontane Eingriffe, Einfälle,  Zugaben, überschreiben dabei die Radioarbeit im Sinne des allgegenwärtigen Wirkens und Wütens der Geschichte, vielleicht, des weit offenstehenden Abgrunds der Zeit, etwa, in den wir, zu jeder Zeit, blicken, und führen „masslose Gegenwärtigkeit“, „akute Spontanität“, „endlose Flüchtigkeit“, das „Grosse Zufällige“ ein in die scheinbare Dauerhaftigkeit, Abgeschlossenenheit, Endgültigkeit einer im Studio realisierten Komposition.


Quelle der Fotos:

Anonym (Mitglied des Sonderkommandos von Ausschwitz), Einäscherung Vergaster in den Verbrennungsgräben unter freiem Himmel vor der Gaskammer des Krematoriums 5 in Auschwitz. August 1944. Oswiecim, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Negative Nr. 277-278).

 



Anonym (Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz), Frauen auf dem Weg in die Gaskammer des Krematoriums 5 von Auschwitz, August 1944. Oswiecim, Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau (Negative Nr. 282-283).






* Georges Didi-Huberman: „Bilder trotz allem“, Wilhelm Fink Verlag,     München, 2007

* W.G.Sebald: „Austerlitz“, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2002
„Die Unmöglichkeit, genauer in die gewissermaßen im Aufscheinen schon verschwindenden Bilder hineinblicken zu können, sagte Austerlitz, brachte mich endlich auf den Gedanken, eine Zeitlupenkopie des Theresienstädter Fragments (Anmerkung: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“) anfertigen zu lassen, die es ausdehnte auf eine ganze Stunde, und tatsächlich sind in diesem um ein Vierfaches verlängerten Dokument, das ich seither immer wieder von neuem mir angesehen habe, Dinge und Personen sichtbar geworden, die mir bis dahin verborgen geblieben waren. Es hatte nun den Anschein, als arbeiteten die Männer und Frauen in den Werkstattbetrieben im Schlaf, so viel Zeit brauchte es, bis sie beim Nähen die Nadel mit dem Faden in die Höhe gezogen hatten, so schwer senkten sich ihre Lider, so langsam bewegten sich ihre Lippen und blickten sie zu der Kamera auf. Ihr Gehen glich nun einem Schweben, als berührten die Füsse den Boden nicht mehr. Die Körperformen waren unscharf geworden und hatten sich, besonders bei den draußen im hellen Tageslicht gedrehten Szenen, an ihren Rändern aufgelöst, ähnlich wie die Umrisse der menschlichen Hand in den von Louis Draget in Paris um die Jahrhundertwende gemachten Fluidalaufnahmen und Elektrographien. Die zahlreichen schadhaften Stellen des Streifens, die ich zuvor kaum bemerkt hatte, zerflossen jetzt mitten in einem Bild, löschten es aus und liessen hellweiße, von schwarzen Flecken durchsprenkelte Muster entstehen, die mich erinnerten an Luftaufnahmen aus dem hohen Norden beziehungsweise an das was man in einem Wassertropfen sieht unter dem Mikroskop. Am unheimlichsten aber, sagte Austerlitz, war in der verlangsamten Fassung die Verwandlung der Geräusche. In einer knappen Sequenz ganz zu Beginn, in der die Bearbeitung des glühenden Eisens und das Beschlagen eines Zugochsens in einer Hufschmiede gezeigt wird, ist aus der auf der Tonspur der Berliner Kopie zu hörenden lustigen Polka irgendeines österreichischen Operettenkomponisten ein mit geradezu grotesker Trägheit sich dahinschleppender Trauermarsch geworden, und auch die übrigen dem Film beigegebenen Musikstücke, von denen ich einzig den Cancan aus La Vie Parisienne und das Scherzo aus Mendelssohns Sommernachtstraum zu identifizieren vermochte, bewegten sich in einer sozusagen subterrranen Welt, in schreckensvollen Tiefen, so sagte Austerlitz, in die keine menschliche Stimme jemals hinabgestiegen ist. Nichts von dem gesprochenen Kommentar ist mehr verständlich. Wo in der Berliner Kopie in einem forschen, gewaltsam aus dem Kehlkopf hervorgepreßten Ton die Rede war von Einsatztruppen und Hundertschaften, die entsprechend der Bedarfslage die verschiedensten Arbeiten durchführten und gegebenenfalls umgeschult würden, so daß jeder Arbeitswillige die Möglichkeit habe, sich reibungslos in den Arbeitsprozeß einzugliedern, an dieser Stelle, sagte Austerlitz, vernahm man jetzt nur mehr ein bedrohliches Grollen, wie ich es zuvor ein einziges Mal bloß gehört habe, an einem ungemein heißen Maifeiertag vor vielen Jahren im Jardin des Plantes in Paris, als ich nach einer Anwandlung des Unwohlseins eine Zeitlang auf einer Bank bei einer Vogelvolière gesessen bin, nicht weit von dem Raubtierhaus, in welchem die von meinem Platz aus unsichtbaren und, so dachte ich mir damals, sagte Austerlitz, in der Gefangenschaft um ihren gesunden Verstand gebrachten Löwen und Tiger ihr dumpfes Klagegebrüll erhoben, Stunde um Stunde, ohne Unterlaß."