Sonntag, 15. Jänner 2012, 23:03 - 23:59, Ö1
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KUNSTRADIO - RADIOKUNST





Art’s Birthday Überblick


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Die Kunst wird heuer 1,000.049 Jahre alt, und das Kunstradio 25 Jahre. Aus diesen beiden Anlässen werden in der heutigen Sendung die Ursprünge und Entwicklung des Art’s Birthday betrachtet, für dessen Geschichte auch der Wiencouver-Austausch bedeutend war. Nachdem Robert Filliou 1963 den ersten Art’s Birthday als einemillionsten Geburtstag gefeiert hatte, wurde die Idee in den 1970er Jahren vereinzelt aufgegriffen, jedoch weit entfernt von einer Institutionalisierung. In den 1980er Jahren machten Telekommunikationskünstler in Österreich und Kanada Veranstaltungen zum Art’s Birthday. Unter dem Titel „Wiencouver“ – ein aus den Städtenamen Wien und Vancouver zusammengesetztes Wort – entstanden mehrere Projekte, die mit damals neuen und noch nicht am Markt erprobten Technologien in einem virtuellen Kunstraum stattfinden. Seit den 1990er Jahren ist der Art’s Birthday zu einem weltweiten, vernetzten Festival angewachsen, an dem sich viele kleine, freie Gruppen beteiligen, aber auch Museen und öffentlich-rechtliche Sendeanstalten, wie der ORF. Das Ö1 Kunstradio feiert den Art’s Birthday seit 1999 regelmäßig und trägt so zum Eternal Network bei. Das Netzwerk, von dem Robert Filliou sprach, ist dem künstlerischen Schaffen gewidmet. Es kann als Konzept für den Austausch gelesen werden, den das Art’s Birthday network ermöglicht, und vielleicht sogar als Metapher für die dezentralisierte, allgemein zugängliche Struktur des Internets.

Robert Filliou wurde 1926 in Frankreich geboren und schloss sich 1943 der Résistance an. Nach dem Krieg wanderte er in die USA aus, machte einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und arbeitete für die Vereinten Nationen – unter anderem Wiederaufbauagentur der UN für Korea Anfang der 1950er Jahre. Den Glauben an die friedensstiftende Macht von Institutionen gab er auf, zugunsten der Kunst und der Poesie. Den Art’s Birthday feierte Filliou erstmal 1963. In diesem Jahr, am 17. Jänner, wurde die Kunst eine Million Jahre alt. Fillious Konzept sah vor, dass dieser Tag ein offizieller Feiertag sein soll, mit Paraden und öffentlichen Festen, ein Tag, an dem die Erwerbsarbeit ruht und stattdessen die Kreativität das Geschehen bestimmt. Jedes Jahr sollte der Feiertag um einen Tag ausgedehnt werden, bis irgendwann das ganze Jahr – jedermanns Leben – der Kunst gewidmet ist. Im Sinne der Fluxus-Künstler, die vor rund 50 Jahren begannen unter dieser von George Maciunas eingeführten Bezeichnung ihre Kunst zu entwickeln, sollten Leben und Kunst eine Gesamtheit bilden.

Der kanadische Künstler Hank Bull hat Robert Filliou mehrfach getroffen, als dieser in den 1970er Jahren Kanada bereiste und in der von Bull mitaufgebauten, von Künstlern verwaltete Produktions- und Ausstellungsstätte Western Front in Vancouver zu Gast war. Hank Bull erzählt, dass Robert Filliou – obwohl sie noch nicht entwickelt waren – ein Verständnis für die Möglichkeiten vernetzender Technologien besaß und wie diese die Gegenwart mit der Zukunft zu verbinden vermögen. Die Vernetzung, die Robert Filliou mit seinem Konzept des Eternal Network vorgeschlagen hatte, erhielt mit der Entwicklung elektronischer Medien zur Datenübertragung und vor allem des Internets freilich eine neue Dimension.

Nachdem Filliou 1963 in Aachen zum ersten Mal und in Südfrankreich 1964 zum zweiten Mal den Geburtstag der Kunst gefeiert hatte, fand zehn Jahre später die erste Art’s Birthday Veranstaltung in Nordamerika statt. Rahmen war ein Treffen von Mail-Art-Künstlern in Los Angeles. Mail art verwendete das Postsystem als Atelier, als Ausstellungsraum, Produktionsort und Kommunikationsraum. Man schickte einander Collagen, Handlungsanweisungen und später Photokopien per Post. Im Mittelpunkt der Mail art, so Hank Bull, stand nicht der individuelle Künstler, sondern das kollektive Schaffen. Es gibt kein Genie und kein Meisterwerk – alle haben etwas zu sagen und alle können Kunst ausführen. Auch das sind Fluxus-nahe Ideen. Beim Mail art Treffen 1974 in Hollywood, Decca Dance genannt, kamen Künstler aus aller Welt, und der junge Künstler Hank Bull spielte bei der Gala Klavier. Art’s Birthday war ein Aspekt, aber nicht Anlass für Decca Dance, sagt Hank Bull. Er beschreibt es als das konstituierende und zugleich auch die Strömung Mail art abschließende Treffen. Bedingt war dieses Ende einerseits durch die Überfüllung der Postkästen mit Mail art, und vor allem natürlich die Erschließung anderer Vernetzungsmöglichkeiten durch die Kunst.

Das Radio, wie andere Massenmedien, bot kanadischen Künstlerinnen und Künstlern in den ausgehenden 1970er Jahren neue Möglichkeiten der Kommunikation und Produktion – Hank Bull selbst startete 1976 mit Patrick Ready gemeinsam die legendäre HP radio show. Slowscan, Fax, Telefon und später Frühformen von Email dienten den Telekommunikationskünstlern als Medien und Mittel. Das von Robert Filliou geprägte Konzept des „Eternal Network“ wuchs also mit den neu entwickelten Technologien und mit alternativen Massenmedien. Einer der Vorreiter der Telekommunikationskunst war Robert Adrian. Er ist ebenfalls Kanadier, lebt jedoch seit 1972 in Wien. Sound versteht er als skulpturales Medium, und das Netzwerk als einen Raum, der künstlerisch hergestellt und verwendet werden kann. Bevor dieser Raum mithilfe von Internetverbindungen aufgemacht werden konnte, dienten Künstlern auch Telefone, um Kommunikationsskulpturen zu schaffen.

Robert Adrian und die Kunstradio-Gründerin Heidi Grundmann machten 1978 mit Hank Bull Bekanntschaft. Im folgenden Jahr wurde er zur Veranstaltung Audio Scene in Wien eingeladen. Veranstaltet von Grita Insams Modern Art Galerie, war die Audio Scene 79, eine Ausstellung mit Performances und Symposium. Bei diesem Treffen hatte Hank Bull die Idee zu Wiencouver, einem imaginären Ort im elektronischen Raum zwischen Wien und Vancouver. Dass die Telekommunikationskunst vor allem von – im globalen Vergleich – kleineren Städten ausging und ihre Zentren nicht die großen Kunstmetropolen der Welt waren, erklärt Robert Adrian mit dem Bedürfnis nach Anschluss und Verbindung, im wörtlichen Sinn, mit der Außenwelt.

Telekommunikationsprojekte gab es viele, freilich auch mit anderen Städten, aber die Verbindung zwischen Wien und Vancouver war besonders intensiv. Der Art’s Birthday wurde als willkommener Anlass verwendet, um diese Verbindung zu feiern. Ein wichtiger Moment der Geschichte von Wiencouver, war 1983. Robert Adrian war, ebenso wie Bill Bartlett, als Gastkünstler in der Western Front in Vancouver und organisierte Wiencouver IV. Sowohl in Vancouver als auch in Wien waren mehrere Bands und Künstlerinnen vor Ort. Die Konzerte und Performances wurden über Telefon und Slowscan übertragen. Slowscan ist eine Technologie, die über Telefonleitung Standbilder überträgt. Das Bild wird, sobald es aufgebaut ist, also nach acht Sekunden, vom nächsten Bild überschrieben.

Die Idee der imaginären Stadt, die irgendwo zwischen Wien und Vancouver hängt, blieb danach einige Jahre unangetastet, bis 1999 das Kunstradio in die Art’s Birthday Feier einstieg und gemeinsam mit Hank Bull und der Western Front somit auch das Label Wiencouver reanimierte.
Auf die Frage, welche Ausgabe ihm, der seit 1974 fast jedes Jahr den Art’s Birthday gefeiert hat, besonders in Erinnerung geblieben ist, nennt der kanadische Künstler Hank Bull das Jahr 1991. Kurz vor dem Art’s Birthday hatten die irakischen Truppen unter Saddam Hussein ein Ultimatium der Vereinten Nationen verstreichen lassen und die USA eröffneten die Operation Desert Storm. Künstlerinnen und Künstler reagierten am 17. Jänner 1991 unvermittelt auf den Beginn des Golfkriegs. Statt Geburtstagstorten gab es live Berichterstattung aus Amman, wo Karl Dudesek Bilder und Sounds lieferte und mit kanadischen Schülern am Telefon über die Kriegsereignisse sprach. Auch das kann der Art’s Birthday sein: ein Fenster für alternative Berichterstattung, wenn sich Ereignisse überschlagen und unabhängige Künstler mehr zu sagen haben, als gleichgeschaltete Massenmedien.

Unter seinem Künstlernamen Absolute value of noise macht der ebenfalls in Vancouver lebende Künstler Peter Courtemanche regelmäßig beim Art’s Birthday mit. Sein erster Art’s Birthday war 1989, als er Programmdirektor des Campusradios CITR in Vancouver war. Dieses Radio schloss sich mit zwei anderen Radios, freien lokalen Radios zusammen zum sogenannten „Hyper Space Radio“. Die Sendung wurde zunehmend chaotisch, wie Peter Courtemanche im Interview meint. Robert Filliou war im Dezember 1987, also etwa ein Jahr zuvor verstorben. Die Veranstaltung 1989 war daher eine kleine Hommage an das „Eternal Network“ Fillious, jedoch wurde die Veranstaltung nicht ausdrücklich als Art’s Birthday deklariert – zumal auch keine Einigkeit unter den Künstlern darüber herrschte, was der Art’s Birthday sein sollte.

Das Projekt “Scrambled bites”, das Peter Courtemanche mit anderen Künstlern für die Organisation Western Front in Vancouver erarbeitete, ermöglichte telepräsente, künstlerische Interventionen mittels einer Datenstream-Fernbedienung. So wurde etwa das Signal, das durch das Schlagen eines Hammers in Winnipeg ausgelöst wurde, nach Vancouver transportiert, wo dadurch eine Torte zertrümmert wurde. Außerdem gab es in Vancouver eine Cocktailmaschine, die je nach Betriebsamkeit des Datenflusses im Netzwerk mehr oder weniger Getränke mischte. Ein Cocktailroboter war unterdessen auch in Wien aufgestellt. Bei der Kunstradio-Party im ORF Funkhaus klang der Art’s Birthday 2004 mit der Sendung „Global Hangover“ aus.

Dem Netzwerk, das seit jeher sehr lose organisiert war, trat 2005 auf Vermittlung des Kunstradios eine Gruppe europäischer Radioanstalten bei, die mit dem Namen Ars Acustica als Radiokunst-Gruppe der Europäischen Rundfunkvereinigung der EBU agieren. Das sind öffentlich-rechtliche Hörfunkanstalten, die sich in Sendungen unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtungen und mit unterschiedlicher Intensität der Radiokunst widmen. Entsprechend vielfältig sind auch die Veranstaltungen zum Art’s Birthday, die von Ars Acustica Mitgliedern organisiert werden. Das können große Konzertveranstaltungen mit bis zu tausend Besuchern sein, oder ganz kleine, feine Feiern, die durch Anbindung ans Art’s Birthday Netzwerk zur „Fete Permanente“ werden. Dieses von Künstlerinnen und Künstlern initiierte Netzwerk ist in den letzten Jahren stark gewachsen – was nicht bedeutet, dass die Austauschaktivitäten zugenommen haben, obgleich die technischen Voraussetzungen dazu so günstig sind wie nie.

Es war das Konzept des “Eternal Network”, das Künstler und Künstlerinnen immer wieder – unter unterschiedlichen organisatorischen und vor allem auch kommunikationstechnischen Voraussetzungen – zum Art’s Birthday führte. Dass Robert Filliou den Art’s Birthday als Idee zur Verfügung stellte, die gewandelt und interpretiert werden kann, dass es kein „richtig“ und „falsch“ gibt, davon ist auch Hank Bull überzeugt. Der Art’s Birthday könne als Vehikel für gesellschaftspolitische Anliegen dienen, wie etwa in den 1980er Jahren, als kanadische Künstler gegen Kulturbudgetkürzungen protestierten – er könne aber auch einfach als Vorwand fürs Feiern genommen werden.

Der Kunst ein Fest zu bereiten, gemeinsam in einem Netzwerk an verschiedenen Orten zu feiern, Werke auszutauschen ungeachtet der Urheberschaft – diese Aspekte, die Filliou’s Idee des Art’s Birthday innewohnen, sind für Peter Courtemanche nicht nur auf die Kunst anwendbar. So sind auch nicht nur Künstler und Künstlerinnen die Adressaten von Fillious Angebot. Der Art’s Birthday ist eine Aufforderung erfinderisch und kreativ zu sein, und zwar in allen Lebenslagen.

Mitarbeit: Heidi Grundmann, Andrea Sodomka, Anna Soucek, Elisabeth Zimmermann
Interviews mit Robert Adrian, Hank Bull, Peter Courtemanche aka Absolute value of noise, Ben Patterson

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