SONNTAG, 17. August 2008, 23:05. - 23:45, Ö1
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KUNSTRADIO - RADIOKUNST


 

 


„Die Harmonische Gesellschaft“

Ein Ohrenzeugenbericht aus Peking von Heimo Lattner


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Heimo Lattner ist Künstler und lebt in Berlin. Er sucht nach den Kleinigkeiten der alltäglichen Denkweisen und den gewöhnlichen Tätigkeiten, welche in der Menge das Ganze der imaginären und realen Wirklichkeit eines Ortes ausmachen.
Die Monate Januar bis März 2008 verbrachte Lattner im Rahmen eines Stipendiums des Österreichischen Bundesministeriums für Unterreicht Kunst und Kultur in Peking. Im Zentrum seiner Recherchen stand das alltägliche Leben im Zeichen der gesellschafts-politischen Reformen in der Volksrepublik China seit dem Beschluss von 1978 über Reform und Öffnung des Landes.

Anmerkungen von Heimo Lattner:

"Eine Stimme zu hören, macht uns zu einem Ohrenzeugen. Diese hörende Zeugenschaft kann als ethischer und politischer Akt verstanden werden. Lieder sind kollektives Gedächtnis und eine Fundgrube für gesellschaftliche Partituren.

Im alten China wurde der Musik große Bedeutung für die Harmonie und Langlebigkeit des Staates zugeschrieben. In der Regel nahmen Kaiser sich des volkstümlichen Liedguts an und sandten etwa Beamte aus, um Lieder zu sammeln und dadurch die Verfassung des Volkes zu studieren.

Nach Gründung der Volksrepublik China (am 1.10.1949 rief Mao Zedong die Volksrepublik China in Peking aus) erlebten revolutionäre Kampflieder einen Aufschwung; viele wurden mit neuem Text aus der Sowjetunion übernommen. Lieder dienten als Medium der Propaganda und der ideologischen Unterweisung. Für die erste Generation in der neuen Volksrepublik China waren Lieder Träger und Vermittler von Werten und Idealen, sie förderten den Gemeinschaftssinn und kontrollierten Emotionen. Darüber hinaus suggerierten und befriedigten sie zugleich den Drang nach einer heroischen, emotional geladenen Atmosphäre. Junge Rotgardisten bedienten sich der Lieder als “Waffe”. Lieder machten aus biederen Studenten furchtlose Revolutionäre.

Auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution* unterlagen Komposition und Aufführung von Musik schwerwiegenden Restriktionen. Auf dem Reißbrett wurde eine eingängige, chinesische Musikrichtung geschaffen. Man bediente sich dabei am traditionellen Volksliedgut und instrumentalisierte dieses für die Schaffung revolutionärer Gesänge. Man erhoffte sich dadurch die noch weitgehend analphabetischen Volksmassen für die Ziele der Kommunistischen Partei zu gewinnen.

Den jeweiligen Umständen entsprechend war Singen eine mehr oder weniger spontane, emotionale Form des Ausdrucks, oder Teil ritualisierter, täglicher Routine (z.B. das Singen des Liedes “Der Osten ist Rot” am Anfang von Versammlungen). Rationales, nach vorne gerichtetes Denken untermauert revolutionäre Euphorien. Im intensiven Erlebnis des gemeinsamen Singens allerdings werden auf unvergleichliche Weise kollektive Emotionen freigesetzt und bis zur Ekstase gesteigert.

Wie dem auch sei, aufgrund seines “verbindenden Effekts” trennt das Singen zwischen der “eigenen Gruppe” und “den anderen”, dem Außerhalb. Es scheint, als beschriebe der Widerspruch zwischen Chor und Individuum unterschiedliche Welten. Das Massen-Theater der Kommunisten und Faschisten entlarvte den individualisierten Menschen als Täuschung, das Individuelle langt darin nach der Masse; in Rhythmus und Klang der Gesänge verschmilzt es mit dem Kollektiv.

Es wird viel und gerne gesungen in China, der traditionelle Liedschatz ist unüberblickbar groß, umfasst heitere wie ernste Stücke und basiert bisweilen sogar auf westlicher Popmusik oder Filmliedern. An Wochenenden finden sich etwa in den Parks und Tempelanlagen Pekings spontan Menschen zusammen, um sich an traditionellem Volksliedgut zu erfreuen.

Unter den Dächern der Pavillons oder zwischen Baumgruppen versammeln sich bis zu 100-köpfige Chöre, meist gleichmäßig verteilt auf Frauen und Männerstimmen, mehrköpfige Mundharmonika-Ensembles und Solisten. Ihre Instrumente sind mit kleinen Plastikverstärkern verbunden, welche die Musiker, fast immer Männer, über den Hüften am Körper tragen. Und dazu singen fast ausschließlich Frauen Lieder vom fernen Soldaten. An anderer Stelle treten Sänger und Sängerinnen auf, deren Liedtexte sich in einer Übersteuerung der batteriebetriebenen Verstärkerboxen zu einer Wortfläche verdichten und von kitschigen Schlagerrhythmen aus Elektro-Orgeln begleitet werden. Nicht selten steigert sich die Darbietung ins schrille Pfeifen einer Rückkopplung. Und die Sängerinnen verbeugen sich schüchtern vor ihrem applaudierenden Publikum. Die revolutionäre Klassentrennung von einst scheint hier aufgehoben. Was diese Menschen verbindet, ist das Liedgut, das vormals wesentlicher Bestandteil ihres Alltags war.
Die Musik besingt die Idee von Revolution so wie sie die Idee von Liebe besingt. Darin ähneln sich die theoretische Schrift und die Lieder: in der Orientierung am Ideal und an der Utopie.

Tänzer und Schauspieler, sofern welche beteiligt sind, nehmen immer den zentralen Raum ein. Die Sänger und Musiker fassen die “Bühne” kreisförmig ein. Drumherum, wie ein Körper, der das Geschehen umschließt, als ob er es erst hervorbringen würde und beschützten müsste, stehen die Zuschauer. Eine Mundharmonika, mehrere Trommeln und Holz-Schlaginstrumente tragen Rhythmus und Melodie. Wenige, unterschiedliche Phrasen werden stundenlang immer wieder neu arrangiert. Bizarres Tanztheater, Varieté, Oper. Bestimmte Reimschemen wiederholen sich, dazu ein weiblich-männlich Rollenspiel. Männer in Frauenkostümen mit schiefem Make-Up, Clowns, umschwirren die Frauen, welche nur wenig Verkleidung tragen und drehen sich verzückt um sich selbst. Ein erheblicher Teil der Handlung spielt sich hinter Fächern ab. Es wird stumm gelacht, vereinzelt mit dem Chor in Alltagskleidung mitgesungen.
Eine ältere Frau hebt an ein Kinderlied zu singen. Sie sitzt und singt, und sie tut es nur für das kleine Mädchen, dem es vor Aufregung die Sprache verschlagen hat. Auch ihre Stimme wird von einem kleinen Plastikverstärker an ihrer Hüfte übertragen. Sie hat zwei Stimmen.

An wieder anderer Stelle, unter dem oktogonalen Dach eines freistehenden Pavillons findet sich eine Gruppe Pensionisten ein. Im Mittelpunkt steht ein Mikrophon bereit für die wechselnden Solisten. Lautstärke- und Hallregler sind auf maximale Leistung eingestellt. Für Außenstehende scheinen sich die Stimmen zu überschlagen. Jedoch im Inneren, im Kreise der Akteure, vermengen sich die Klänge der traditionellen Instrumente mit dem Vibrieren der Stimmen zu einer halluzinogenen Klangmasse. Die vom Chorgedanken ausgehenden Stücke verbindet ein Thema: die Droge Revolution und deren kollektive Einnahme. Den Wert der Droge bestimmt die Zahl ihrer Konsumenten.

Die Situation ist geprägt von Bescheidenheit. Die Gesichter der Frauen tragen Züge von Glückseligkeit, während sich die Männer in Zurückhaltung üben. Es ist nicht einfach, die Glücklichen von den Pathetischen zu unterscheiden. Parallelen zu einer Theaterinszenierung und die Nostalgie für eine vergangene Zeit sind nicht zu übersehen. Eben so wenig, wie der Umstand, dass Männer einer gewissen Generation immer Anzüge tragen oder zumindest ein Jackett das überlebt, während die Hosen kommen und gehen.

Was die Gegenwart mit der vergangenen Zeit hier verbindet, ist der erneute gesellschaftliche Auf - und Umbruch und der Wunsch nach Schaffung einer harmonischen Gesellschaft. Die Bedingungen aber, unter denen dieser Wunsch erfüllbar wäre, scheinen noch schwieriger bestimmbar als ehedem. Die historischen Traumvorbilder sind unwiderruflich verbraucht, deren realhistorische gesellschaftliche Vergegenständlichungen größtenteils selbst Geschichte. Was allerdings Menschen von ihrer eigentlichen Natur her aus-zeichnet, sind Gefühle und Wünsche, darunter auch der Versuch zu verstehen, was um sie herum eigentlich vorgeht. Genau das wird jedes Wochenende erneut, in einer sich überschlagenden, emotionalen, teils rasend komischen Rhetorik in den Parks durchgespielt."

* Die "Grosse Proletarische Kulturrevolution” war eine politische Kampagne zwischen 1966 und 1976, die von Mao Zedong ausgelöst wurde, um seine Macht gegenüber realen und vermeintlichen Gegnern in der kommunistischen Partei zu behaupten und die Volksrepublik China wieder ganz nach seinen persönlichen Vorstellungen umzugestalten. Während ihrer dreijährigen Hochphase zwischen 1966 bis 1969 kam es zu exzessiven Morden, Misshand-ungen, Zerstörungen und Restriktionen. Hierbei bediente Mao Zedong sich der leicht zu mobilisierenden und manipulierbaren Jugend (vor allem der Nachkommen der Funktionäre), die seit 1963/64 wieder verstärkt auf den Vorsitzenden Mao eingeschworen worden war und ab 1966 dazu angestachelt wurde, den Klassenkampf gegen den vermuteten inneren Feind zu führen. Dies war zunächst die chinesische Kultur selbst, und somit ihre Träger, allen voran die Gebildeten und Gelehrten, sowie die kulturellen Güter und Lebensweisen des Landes. Mao war der Auffassung, dass sich "die richtigen Ideen, wenn sie von den Menschen beherrscht werden" in eine "materielle Kraft verwandeln, welche die Gesellschaft und die Welt umgestaltet." Somit standen bei der Kulturrevolution drei “Therapien” im Vordergrund: intensives Mao-Studium, Berichtigung von Denken und Arbeitsstil (insbesondere innerhalb der Partei) und Ausbildung revolutionärer Nachfolger durch Ermutigung zur Nachahmung revolutionärer Modelle.

Bibliographie:
Agamben, Giorgio (1997) Homo Sacer
Attali, Jaques (1977) Noise - The Political Economy of Music
Blanchot, Maurice (1962) Warten Vergessen
Cheek, Timothy (2006) Living with Reform, China since 1989
Chen/Clark/Gottscharg/Jeffery (2001) China Urban – Ethnographies of Contemporary Culture
Dolar, Mladen (2006) A Voice and Nothing More
Jameson, Fredric (1981) The Political Unconscious
Lomax, Yve (2005) Sounding The Event – Escapades in Dialogue and Matters of Art, Nature and Time
Schleef, Einar (1997) Droge Faust Parzival


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