SONNTAG, 2. Dezember 2007, 23:05. - 23:45, Ö1
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KUNSTRADIO - RADIOKUNST



 


Vorbereitung einer Performance (Foto: Gertrude Moser-Wagner)

 

"Jam Karet – Gummizeit“

In 5.1 Digital Dolby Surround via OE1DD

von Gertrude Moser-Wagner

Technik: Martin Leitner

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“Nyepi” heißt ein auf der Insel Bali zelebriertes Ritual, das weltweit seinesgleichen sucht: es ist der Tag der Stille. Der Aufenthalt im Freien ist für die Dauer von 24 Stunden untersagt, auch verkehren keine Autos, öffentliche Transportmittel und Flugzeuge. Die Ausführung der Stille wird von Hilfssheriffs kontrolliert. Die Künstlerin Gertrude Moser-Wagner hat den Tag der Stille auf Bali verbracht und gestaltet für Kunstradio eine neue Arbeit: „Jam Karet“ bedeutet übersetzt „Gummizeit“.

Gespräch mit dem Fischer (Foto: Eric Letourneau)

An diesem Versuch einer Harmonie mit dem Universum zeigt sich die Lautstärke der Welt.
Der Neubeginn ist Zero, Neujahr beginnt in Stille. Nyepi heißt Stille. Erst Tags darauf ist wieder die Hölle los. Bali, die quirlige Ferieninsel Indonesiens, empfängt keine Touristen, die Flugzeuge landen nicht und alle Taxis stehen still. Der Verkehr schweigt und die Menschen bleiben für 24 Stunden im Haus.

Das Kunstradiostück entwickelt sich aus verschiedenen Kommentaren Einheimischer zu Nyepi: ein Fischer, ein Ober, ein Fremdenführer, ein Polizist und ein Hausbesitzer kommen zu Wort. (Ihre Erzählung auf den Punkt brächte NYEPI als Akronym für: Not Your Energy Please Interrupt.)
Der stille Tag verdichtet sich akustisch mit dem lauten Tag zuvor.

19. März 2007: Besänftigung der Dämonen, OGOH-OGOH genannt. Wochenlang von der Dorfjugend gebaute riesige Dämonenfiguren werden unter Lärmorchester auf Straßenkreuzungen gebracht, einige Male dort rituell herumgedreht (verwirrt), und danach zerlegt und verbrannt. Sie finden nicht zurück, ist doch nächstentags die Insel komplett still und dunkel.
20. März 2007: Stille ab Tagesanbruch für 24 Stunden. Nyepi ist auch immer an Neumond.
„Nyepi“ ist für uns KünstlerInnen ein Anlass für die „15. Performance Art Konferenz“ (kuratiert von Boris Nieslony und Melati Suryodarmo). Es ist vorgesehen, dass wir bei Einheimischen in Bedulu untergebracht sind.

Mehr zum Projekt: http://www.lemahputih.com/undisclosedterritory.html

Ich bin bei der balinesischen Familie Sang. Der Mann (Madé) ist Gamelanspieler, die Frau (Sitiarí) hat drei Gäste im Haus. Ein Haus umfasst auf Bali viele Gebäude eines Familienklans, kleinere Gärten. Balés (überdachte Pavillons) und Altäre für die Ahnen, die immer mitbedacht werden bei Opfern an die hinduistischen Götter.
Alle Personen halten sich meist im Garten auf, ein Beo im Käfig gibt den Ton an, er spricht überaus gern in mein Mikrofon – ein bemerkenswerter Imitator. Eine taubstumme Verwandte macht sich aufgeregt akustisch bemerkbar. Ihr ist der Tag der Stille einerlei, sie interessiert sich nur für uns Fremde. Mein Gastgeschenk ist ein Memory-Spiel mit Europa-Motiven. Hörbar haben alle Spaß am Spiel, nicht nur die Kinder. Es ist ein entspannter Abend. Die Zeit ist gar nichts, null. Ein dehnbarer Begriff, Jam Karet, Gummizeit. Ich habe sie in meiner anschließenden Performance in Solo, Java, verarbeitet, und ihr meine europäisch strukturierte Zeit gegenübergestellt.

Gregory Bateson (Ökologie des Geistes, Suhrkamp 1985) über Bali: „Unterschiede müssen dort in gewisser Weise wechselseitig redundant sein: sie müssen Teil eines größeren Musters sein...“

Text: Gertrude Moser-Wagner


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