SONNTAG, 5. September 2004, 23:05. - 23:45, Ö1

KUNSTRADIO - RADIOKUNST





Bild: Walter Ruttmann, Partitur-Element zu »Weekend«, 1930

Re-Inventing Radio II / Historische Serie:
Radio als Ort, Kontext und Gegenstand von Kunst
Teil 1 - Das Drama der Distanzen

Eine 7-teilige Serie im Ö1-Kunstradio und bei Kunstradio on line.
Sendegestaltung: Andrea Sodomka
Regie: Hans Groisz
Sprecher: Thomas Edlinger, Marian Schönwiese
Technik: Gerald Ernst

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[ English | German ]

Den Auftakt zu einer neuen Serie, die der Historie der Radiokunst in Österreich, die wiederum eng mit der Geschichte des ganz dieser Kunstform verschriebenen Ö1 Kunstradios verbunden ist, gewidmet ist, hören Sie heute im ersten Teil von Re-Inventing Radio: Radio als Ort, Kontext und Gegenstand von Kunst.

Neben Highlights aus der Geschichte der internationalen Radiokunst - wie den Radioprojekten der italienischen Futuristen, Walter Ruttmanns "Weekend", Orson Welles' "War of the Worlds", Antonin Artaud's "Pour en finir avec le judgement de dieu" oder wesentlichen Beiträgen österreichischer AutorInnen zu einer radiophonen Kunst (Rühm u. a.) - werden in dieser Serie auch exemplarische Projekte des Ö1-Kunstradios aus den 1980er und 90er Jahren kommentiert vorgestellt.

Die Sendungen werden on line als Teil eines historischen, mit erweiterbaren Links versehenen Kompendiums zum Thema "Radio als Ort, Gegenstand und Kontext von Kunst" auch nach ihrer Ausstrahlung erhalten bleiben.

Das Drama der Distanzen

Ausgangspunkt des ersten Teils dieser Serie ist Guillaume Apollinaires Erzählung "Der Mondkönig“, in dem die Welt in beeindruckenden Klangbildern beschrieben ist. Der Autor nimmt damit bereits 1916 viele für Radiokünstler heutzutage schon fast selbstverständlich Methoden, Gedanken und Motive voraus:
Die Überwindung der Distanzen, die Einbeziehung der Geräusche, der befreite Umgang mit Worten, Stimmen und Atmosphären - in anderen Worten, die Einbeziehung des gesamten Klangspektrums der hörbaren Welt.

Die italienischen Futuristen sind auf mehrerlei Weise von besonderer Bedeutung für die Radiokunst. Einer der ersten, die das Geräusch in die Musik einbezogen haben war der futuristische Maler Luigi Russolo, der dies in seinem Manifest "L'arte dei rumori" - Die Kunst der Geräusche“ von 1913 auch theoretisch untermauerte:

"Jede Äusserung unseres Lebens wird von Geräuschen begleitet. Das Geräusch ist also unserem Ohr vertraut, und es hat das Vermögen, uns das Leben selbst zurückzurufen.Wir sind daher sicher, dass wir durch Auswählen, Koordinieren und Beherrschen aller Geräusche die Menschen mit einem neuen, unerwarteten Genuss bereichern werden. Obgleich es das Kennzeichen des Geräusches ist, uns brutal ans Leben zu erinnern, darf sich die Geräuschkunst nicht auf eine nachahmende Wiedergabe beschränken. Sie wird ihre grösste emotionale Kraft im akustischen Genuss an und für sich erreichen, den die Inspiration des Künstlers aus den zusammengesetzten Geräuschen zu ziehen wissen wird.“

Erfüllt hat der Filmemacher Walter Ruttmann diese Forderungen 1930 mit seinem Hörkino "Weekend“ dank eines neuen Lichttonverfahrens.

„Alles Hörbare der ganzen Welt wird Material. Dieses unendliche Material ist nun zu neuem Sinn gestaltbar nach den Gesetzen der Zeit und des Raums. Denn nicht nur Rhythmus und Dynamik werden dem Gestaltungswillen dieser neuen Hörkunst dienen, sondern auch der Raum mit der ganzen Skala der durch ihn bedingten Klangverschiedenheiten. Damit ist der Weg offen für eine vollkommen neue akustische Kunst - neu nach ihren Mitteln und nach ihrer Wirkung.“
Walter Ruttmann (1929)

Für "Weekend" verwendet Ruttmann sowohl im Studio produzierte Geräusche als auch Außenaufnahmen. In Fabriken und in den Straßen Berlins nimmt er mit dem Mikrofon seine Umwelt auf. Damit wurde zum ersten Mal ein Hörspiel nicht live, sondern als Aufzeichnung gesendet. "Weekend" ist das erste Hörspiel, das ohne Schauspieler, ohne eigens gestaltetem Text, nur mit Geräuschen und akustischem Material aus der Umwelt eine Geschichte erzählt und in dem Montage und Schnitt eigenständige Kompositionsprinzipien sind.

Für die Radiokunst von größter Bedeutung sind die "Cinque Sintesi dal Teatro Radiofonico", Filippo Tommaso Marinettis Thesen über das radiophone Theater von 1933. Marinetti hinterließ Partituren für einige Radiostücke, die erst in den späten 70er Jahren rekonstruiert worden sind, darunter das "Drama der Distanzen".
Marinettis Thesen zeigen eine Auffassung des Mediums Radio, die auf die Methoden der Telekommunikation hinweisen - auf die damals noch nicht realisierbaren Möglichkeiten des Mediums Radio, an vielen Orten gleichzeitig zu senden - und der Künstler sieht weltweit vernetzte Live-Schaltungen voraus. Marinetti betrachtet das Radio also als Instrument, um Distanzen zu überwinden und zu einer simultanen Radioskulptur zu vereinen.

Ein Stück des italienischen Medienkünstlers Sergio Messina holt uns schließlich in die jüngere Vergangenheit. Sein 1991 entstandenes Stück "Marinectric" führt die Gedanken der Futuristen konsequent weiter: Wenn im Rhythmus einer gesampelten Kopiermaschine Flaschen zerbersten und der Lärm einer elektrischen Schreibmaschine in den Konzertsaal hereinbricht, dann ist der digitale Sampler das Intona Rumori einer neuen Generation von Künstlern, die Geräusche, Klänge und Stimmen in Echtzeit bearbeiten.

> Weiter: Teil 2 - Worte in Freiheit





Bild: Walter Ruttmann, Partitur-Element zu »Weekend«, 1930

Re- Inventing Radio II / Historical Series:
Radio as space, context, and content of art
Part 1 - The Drama of Distances

A series in 7 sequels on ORF Kunstradio.
Compiled by: Andrea Sodomka
Arranged by: Hans Groisz
Speakers: Thomas Edlinger, Marian Schönwiese
Technician: Gerald Ernst


A CASSETTE OF THIS PROGRAM CAN BE ORDERED FROM THE "ORF TONBANDDIENST"


[ English | German ]

Tonight's broadcast is the start of a new series dedicated to the history of radio-art in Austria which, again, is tightly connected to the history of ORF Kunstradio: Re-Inventing Radio: Radio as space, context, and content of art.

Besides highlights from the history of international radio-art such as the radio projects of the Italian Futurists, Walter Ruttman's "Weekend", Orson Welles "War of the Worlds", Antonin Artaud's "Pour en finir avec le judgement de dieu" or major contributions to radiophonic art by Austian artists (Gerhard Rühm a.o.), also exemplary projects of ORF Kunstradio from the 1980s and 90s are presented and commented on.

The broadcasts will be archived online as part of a historical compendium, also comprising additional links on the subject.

The Drama of Distances

The starting point of the first part of the series is Guillaume Apollinaire's story "The Mondkönig" (The Moon King) which describes the world with impressive sonic expressions. Already 1916, the author anticipates many methods, ideas and motifs taken for granted by radio artists nowadays: Overcoming distances, the inclusion of noise, a liberalized dealing with words, voices, and atmospheres; in other words, the inclusion of the complete spectrum of the audible world.

The Italian Futurists are of great importance for radio-art in a multiple sense. One of the first artists to include noise within music was the Futurist painter Luigi Russolo who backed-up this concept also theoretically with his manifestso "L'arte dei rumori" (The Art of Noise) from 1913:

"Every expression of our lives is accompanied by noise. Thus, our ears are used to noise which, again, can call back life to us. Therefore we are certain that by selecting, coordinating, and controlling all sounds, we will bring a new, unexpected pleasure to the people. Albeit a sound is marked by its ability to remind us of life brutally, the art of noise should not be limited to an imitating reproduction. It will achieve its greatest emotional power through acoustic pleasure per se which the artist will derive from the assembled sounds."

The film-maker Walter Ruttmann fulfilled these postulations in 1930 with his acoustic cinema "Weekend“ thanks to a new technology.

"Every audible thing on the whole world becomes material. This endless material can now be formed to create new meanings due to the rules of time a n d space. For not only rhythm and dynamics will serve the creative power of this new audio art, but also space with the complete scale of sonic varieties dependent on the the spacial constitution. Thus, everything is open for a completely new acoustic art - new due to its means and its impact."
Walter Ruttmann (1929)

For "Weekend" Ruttmann used sounds produced in the studio as well as sounds recorded outside. He recorded his surroundings with a microphone in factories and on the streets of Berlin. This was the first time that a radio play was not broadcast live, but as pre-recorded piece. "Weekend" is the first radio play telling its story without actors, without specifically scripted text, using only environmental sounds and acoustic material and montage and cutting as self-contained composing principles.

Filippo Tommaso Marinetti's "Cinque Sintesi dal Teatro Radiofonico" - the artist's theses on a radiophonic theatre from 1933 - are of crucial importance for radio-art. Marinetti left scores for a number of radio pieces which weren't reconstructed before the late 1970s, amongst others the "Drama of Distances". Marinetti's theses demonstrate a conception of radio which already indicates methods of telecommunication - pointing out the, at that point not yet realizable potential of the medium to broadcast simultaneously at/from multiple locations - and the artist anticipates a global network of live connections. Thus, Marinetti regards the radio as an instrument to overcome distances and to unite these to a simultaneous radio sculpture. Finally, a piece by the Italian media artist Sergio Messina brings us up to recent history. "Marinectric", realized in 1991, consequently follows-up the ideas of the Futurists. When bottles are bursting in the rhythm of a sampled copy machine and the noise of an electric typewriter overtakes the concert hall, then the digital sampler is the Intona Rumori of a new generation of artists who edit sounds, tones, and voices in real-time.

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