Twice Around the World
von Chris Cutler

Out of the Blue Radio ist eine Radiosendung, die in London täglich zwischen 23.30 Uhr und Mitternacht auf Resonance FM (http://www.resonancefm.com), einem unabhängigen Sender für Radiokunst, ausgestrahlt wird. Gestartet wurde das einjährige, budgetlose Projekt im Juli 2002.

Meine Idee für diese Sendung war es, den HörerInnen das Ohr einer anderen Person für jeweils eine halbe Stunde zu "leihen"; ein Fenster zu einer anderen Geräuschkulisse zu öffnen - entfernt oder nah -, die nicht ident mit der eigenen akustischen Umgebung ist. Die AutorInnen, die uns ihre Ohren zur Verfügung stellen, gestalten durchgehende, ungeschnittene halbstündige Aufnahmen von einem Ort ihrer Wahl, aufgenommen zwischen 23.30 Uhr und Mitternacht Londoner Ortszeit; d.h. halb vier Uhr nachmittags in Vancouver, 7.30 Uhr morgens in Peking oder 00.30 Uhr in Wien. Sie schicken diese unbearbeiteten Aufnahmen dann nach London, wo sie wie sie sind gesendet werden.

Ein wichtiger Aspekt des Projekts ist es, ganze Zeitblöcke in ihrer Entfaltung einzufangen; sie nicht zu verbessern oder umzumodellieren zu versuchen; sie nicht den Vorstellungen eines Produzenten, was gut klingt oder ästhetisch wertvoll ist, anzupassen, sondern einfach nur diese Momente einzufrieren. Ort und Tätigkeit sind gewählt, der Rest sich selbst überlassen. Dies sind allerdings nicht Schnappschüsse aus dem Leben, sondern Hörobjekte: Geräusche, die eingefangen werden und in fremden Kontexten reproduziert werden; Sounds, die gerahmt und objektiviert und unabhängig wiedergegeben werden.

Es scheint mir, dass die Beiträge mit ihrer rohen Beschaffenheit, am "Mangel" an Bearbeitung überhaupt nicht leiden - ganz im Gegenteil: sie entwickeln dadurch eine unglaubliche Kraft. Von allen anderen sinnlichen Wahrnehmungen und von ihren lebenden Quellen getrennt, enthüllen sie, was durch die Zwänge des Alltags, durch das wir eilen, unbedacht überhört wird. Geräusche, die instinktiv ignoriert, in Objekten aufgelöst oder absichtlich unterdrückt werden, können durch ihre unmittelbare Irrelevanz und die Gleichgültigkeit von Maschinen, die keine Subjektivität besitzen, zu neuem Leben erwachen.

Selbstverständlich "klingen" diese Geräusche, doch das ist nicht deren "Bekenntnis". Sie verlangen nicht, als reiner Sound gehört zu werden. Sie sind, was sie sind: Autos, Hämmer, Atmosphären - zugleich vertraut und rätselhaft. Und - wie Geräusche, die durch ein offenes Fenster dringen - können sie Beachtung finden oder ignoriert werden. Sie können lediglich eine Atmosphäre tönen - oder die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und unser ästhetisches, analytisches und sogar narratives Auffassungsvermögen in Gang setzen.

Als ich gebeten wurde, diese Kompilation zu machen, wollte ich natürlich die Aspekte des Zufälligen und des Unmittelbaren, die so wichtig für das Projekt sind, bewahren. So, anstatt eine Auswahl der "best of" zu treffen oder besonders "interessante" Sounds herauszusuchen, entschied ich, mich von Geografie und Zeit leiten zu lassen. Ich plante eine akustische Reise zweimal um die Welt, wofür 43 der bislang 230 Aufnahmen verwendet werden. Geografische Angaben bestimmten die Reihenfolge der Stücke; der Zeitfluß welche Abschnitte/Orte innerhalb dieser geographischen Zonen gewählt wurden. D.h. ich nahm die ersten 55 Sekunden von der ersten Aufnahme, dann eine Strecke von ca. 0.55 bis etwa 1.50 Minuten von der nächsten usf. durch die Arbeit hindurch. Ich dies aber nicht so genau und entschied beim Anhören erst, wieviel ich von jedem 55-Sekunden-Abschnitt schlußendlich nahm und wo und wie ich die Übergänge gestalten wollte. Anders als die Überblendungen verweilen die "reisenden" Ohren allerdings immer an einem Ort nach dem anderen. Keine der Sounds wurde bearbeitet oder verändert.

Diese freeze-frame Ausgabe von Out of the Blue Radio, die sich eigentlich ähnlich einer Diaschau entwickelt, kann natürlich weder die Ganzheit des Programms noch den kumulativen Effekt, jeden Tag eine andere Welt zu betreten, transportieren; doch ich habe mich an die Priorität des Hörens gehalten, wilde Landschaften zu nehmen, bevor sie gejätet, bepflanzt und verbessert werden. Die täglichen Sendungen, sogar diese Montage, tragen nur leicht die Handschrift von menschlichen Entscheidungen oder Absichten. Der Rest ist, wie er ist.

So wie ich das Stück geschnitten habe, passiert alles, was man hört, während John Scott am Londoner Themseufer entlang läuft, in Hörweite des Big Ben. Das Stück geht John Scott los, der seinen Lauf beginnt, holt ihn bei der ersten Umrundung des Globus ein und kehrt wieder zu ihm zurück als er kurz vor Mitternacht seine Aufnahme beendet. Zwischenzeitlich reisen wir mit virtuellen 49.803 Meilen/Stunde (79.500 km/Sek.) in Quantensprüngen von Ort zu Ort.

credits:

Out of the Blue Radio geht auf eine Idee von Chris Cutler zurück, der die Sendung auch kuratiert.

Diese Montage wurde von Chris Cutler im Studio Midi Pyrenees, Frankreich, zusammengestellt; Technik: Robert Drake.

Einleitung und Koda wurden von Chris Cutler im Elsenstudio, Berlin aufgenommen; Technik: Lutz Glandien.

Die gehörten einzelnen Aufnahmen sind von: John Scott, David Lee Myers, Tom Dimuzio, Hardy Fox, Nicholas Frances Chase, Daniel Van Beers, Brian Woodbury, Otomo Yoshihide, Brian Labycz, Haco & Christopher, Dickson Dee, Daniel Beban, Peter Cusak, David Kerman, Udi Koomran, Michael Northam, Marzio Carlessi, Michael Maksymenko, Andreas Hagerlüken, Chris Cutler, Will Menter, E.M.Thomas, Andrea Rocca, John Dreever, Tony Whitehead, Andrew McKenzie, Richard Windeyer, Jack Vees, Steve McLean, Phil Zampino, Carmen Borgia, Warren Burt, Annie Gosfield, Nic Collins, Chris deLaurentis, Toby Paddock, Bill Harkelroad, John Kennedy, Jim Denley, Philip Mar, Jon Rose und Warrick Swinney - und stammen alle von Beiträgen für Out of the Blue Radio.

Hier die Programmeinträge für die verwendeten Aufnahmen:

Es ist 23.30 Uhr mitten in London, hier in England.
Die Ohren gehören JOHN SCOTT.
Er trainiert für den Budapest Marathon und läuft von Blackfriars aus das Südufer der Themse entlang.

Es ist spätabends in Tusten, New York State.
Heute gehören die Ohren DAVID LEE MYERS.
Er ist am Frog Lake.

Es ist halb vier Uhr nachmittags in San Francisco, USA.
Heute gehören die Ohren TOM DIMUZIO.
Sie kleben am Fenster und es ist teuflisch (heiss) draussen.

Es ist 15.30 Uhr in San Francisco.
Die Ohren gehören heute HARDY FOX.
Er ist im Musée Mechanique.

Es ist halb sechs Uhr abends in Los Angeles, USA.
Die Ohren gehören heute NICHOLAS FRANCES CHASE.
Es ist die letzte halbe Stunde seiner Ausbildung für die Stelle des Integrated Media
Administrator bei CalArts (und für seinen Vorgänger die letzte halbe Stunde im Dienst).

Es ist halb vier Uhr nachmittags in Los Angeles, USA.
Die Ohren gehören heute DANIEL VAN BEERS.
Er ist zwischen Wilmington Ave und Imperial Highway an einem Bahnübergang.

Es ist halb vier Uhr nachmittags in Studio City, Kalifornien, USA.
Die Ohren gehören heute BRIAN WOODBURY.
Er ist auf dem Cahuengua Boulevard.

Es ist halb neun Uhr morgens in Tokio.
Die Ohren gehören heute OTOMO YOSIHIDE, der sich aus einem Fenster in seiner Wohnung lehnt.

Es ist 8.30 Uhr morgens in Matsue-shi, Japan.
Und die Ohren gehören BRIAN LABCYZ.
Er ist in einer kleinen Bucht.

Es ist 8.30 Uhr morgens in Kobe, Japan.
Heute gehören die Ohren HACO und CHRISTOPHER, die scheinbar in ihrem Kühlschrank gefangen sind.

Es ist 7.30 Uhr morgens in Peking, China.
Die Ohren gehören heute LI CHIN SUNG & DICKSON DEE.
Sie hören China Reconstruct.

Es ist 10.30 Uhr vormittags in Dali im Südwesten Chinas.
Die Ohren gehören heute DANIEL BEBAN.
Er ist draußen unterwegs.

Es ist 13.30 Uhr in Baku, ASERBAIDSCHAN.
Die Ohren gehören heute PETER CUSAK.
Er ist für den Muezzin hinaus gegangen und in der Stadt unterwegs.

[Die Sound-Aufnahme in Baku wurde um 13.25 Uhr Ortszeit (8.25 Uhr in London) begonnen. Zu hören ist der Ruf zum Gebet vom Minarett im mittelalterlichen Stadtkern Bakus, den ich unter einem Baum in einer angrenzenden Strasse aufgenommen habe, was mir lieber war als direkt neben der Moschee. Infolgedessen übertönen andere Geräusche - langsam vorbeifahrende Autos; Ziegelsteine, die von einem Lastwagen auf einen anderen geworfen werden - von Zeit zu Zeit den Gesang. Der Sound verändert sich auch mit den Änderungen der Windrichtung bzw. der Windstärke: Baku ist eine windige Stadt. Danach spazierte ich in den Gassen im historischen Kern von Baku herum, die wie ein Irrgarten angelegt sind und, weil es gerade Mittagszeit ist und sehr heiss, ziemlich ruhig sind. Die Aufnahme endet mit dem Verlassen des mittelalterlichen Teils der Stadt und dem Eintreten in einen Stadtteil aus dem 19. Jahrhundert mit breiteren Straßen, Verkehr und einem recht ärmlichen Trinkwasserbrunnen.

Es ist 13.30 Uhr mittags in Tel Aviv.
Die Ohren gehören heute DAVID KERMAN und UDI KOOMRAN.
Sie spazieren durch die Stadt zum Dolphinarium.

Es ist halb zwölf Uhr abends in 145 Triq San Duminku, Valletta, Malta.
Die Ohren gehören heute MICHAEL NORTHAM.
Er ist auf seinem Balkon.

Sonntag ist "Auszeit" für Aufnahmen, die nicht um 23.30 Uhr GMT gemacht wurden.
Heute ist es spät abends in Mailand, Italien.
Die Ohren gehören MARZIO CARLESSI.
Er und ein paar hundert andere Radfahrer formieren sich zu einer Critical Mass Demo, wo Verkehrswege blockiert und Autos angehalten werden.

Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht in Stockholm, Schweden.
Die Ohren gehören heute MICHAEL MAKSYMENKO.
Und er ist bei Peppar, einem Cajun Restaurant.

Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht in Berlin.
Die Ohren gehören heute ANDREAS HAGELÜKEN.
Er ist im Studio bei Deutschland Radio, und synchronisiert eine Dokumentation über Punk in England. Und kurz zu Hause als Stare eine Schlafstelle für die Nacht suchen.

Es ist halb zwölf Uhr mittags in Luxemburg.
Die Ohren gehören heute CHRIS CUTLER.
Er ist am Luxemburger Flughafen.

Es ist 18.30 Uhr abends in Changey, Frankreich.
Die Ohren gehören WILL MENTER.
Er hängt in der Nähe seiner Soundskulptur aus Schiefer, die "Rain Songs" betitelt ist, ab.

Sonntag ist "Auszeit" für Aufnahmen, die nicht um 23.30 Uhr GMT gemacht wurden.
Es ist nachmittags, unter Tag in Niaux.
Die Ohren gehören E.M. THOMAS.
Und sie nimmt gerade an einer Höhlenführung teil.

Es ist gegen 23.30 Uhr nachts in London, England.
Die Ohren gehören ANDREA ROCCA.
Er ist in der U-Bahn, Northern Line, auf dem Weg von Clapham Common zum Leicester Square.

Es ist zwischen 23.30 Uhr und Mitternacht in Dawlish Warren, Devon in England.
Die Ohren gehören TONY WHITEHEAD and JOHN LEVACK DREVER.
Sie sind auf den Sanddünen von Dawlish Warren als die Ebbe einsetzt - und die Vögel mit hinausziehen.

Es ist halb zwölf Uhr nachts in Reykjavik, Island.
Heute gehören die Ohren ANDREW McKENZIE.
Er ist in einer Loft und blickt auf das Badezimmer, das gegenüber von Björks Wohnung liegt.

Es ist 18.30 Uhr abends in Toronto, Kanada.
Heute gehören die Ohren RICHARD WINDEYER.
Er ist auf dem Weg, um den neuen James Bond-Film zu sehen.

Es ist 18.30 Uhr abends in Newhaven, CT,USA.
Heute gehören die Ohren JACK VEES.
Er hat seinen Bass in einem Zimmer im oberen Stock in Woolsey Hall, Yale University
abgestellt und wandert mit dem Tontechniker Thad Brown durch das Gebäude.
Es ist 18.30 Uhr abends in Somerville, Mass, USA.
Die Ohren gehören STEVE MACLEAN.
Er ist auf seiner rückseitigen Veranda und macht seine abendlichen Kora-Übungen.

Es ist 18.30 Uhr abends in New York.
Die Ohren gehören heute PHIL ZAMPINO.
Er geht ins Zentrum, um ein neues Rollo zu kaufen.

Es ist 18.30 Uhr abends in New York City, USA.
Die Ohren gehören CARMEN BORGIA.
Er ist im DuArt Arbeitsraum und stellt gerade einen Dokumentarfilm fertig.

Es ist 19.30 Uhr abends in Kingston, New York.
Die Ohren gehören heute WARREN BURT.
Er spricht mit Pauline Olivieros.

Es ist halb sieben Uhr abends in New York, USA.
Die Ohren gehören heute ANNIE GOSFIELD.
Sie macht gerade den Soundcheck im Tonic mit Roger Kleier, Stephen Vitiello und Marco Capelli.

Es ist 18.30 Uhr abends in Chicago.
Die Ohren gehören heute NICHOLAS COLLINS, irgendwie.
Er ist in der Schleife, aber er hört nur elektromagnetische Felder.

Es ist 15.30 Uhr nachmittags in Seattle, USA.
Die Ohren gehören heute CHRIS DELAURENTI.
Er ist am Wallingford Transfer Station - der städtischen Mülldeponie.

Es ist halb fünf Uhr nachmittags in Seattle, USA.
Die Ohren gehören heute TOBY PADDOCK.
Er geht in einem Fertigungsunternehmen für Elektronik herum.

Es ist halb fünf Uhr nachmittags in Eugene, Oregon, USA.
Die Ohren gehören heute BILL HARKELROAD.
Er ist zu Hause und gibt Gitarrenunterricht. Mit Mike Sobol.

Es ist halb zwölf Uhr mittags in Auckland, Neuseeland.
Die Ohren gehören heute JOHN KENNEDY.
Er ist am Flughafen.

Es ist 9.30 Uhr am morgen in Sydney, Australien.
Die Ohren gehören heute JIM DENLEY.
Und er ist in der Schmuckabteilung am Enmore Tafe College.

Es ist 9.30 Uhr am morgen in Sydney, Australien.
Die Ohren gehören PHILLIP MAR.
Oh nein - er hat einen Termin beim Zahnarzt.

Es ist 23.30 Uhr nachts in Sydney, Australien.
Die Ohren gehören JON ROSE.
Und er ist an der Ecke Oxford und Crown Street, wo er das Nachtleben abcheckt.

Es ist 1.30 Uhr nachts in Kwa Zulu Natal, SÜDAFRIKA.
Die Ohren gehören heute WARRIC SWINNEY.
Es ist Mitternacht in der Vorstadt im Haus seiner Eltern in Palmiet Valley.