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Radiokunst von Bildenden Künstlern

"Snake Bride"

von Marina Abramovic und Ulay



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"Achtung unerwartete Pausen" stand auf der Schachtel, in der das Band, auf dem sich die Arbeit "Snake Bride" von Maina Abramovic und Ulay befindet, im ORF-Kunstradio ankam. Doch die Pausen sind kurz.

Marina Abramovic und Ulay sind wie Terry Fox einige Male in Österreich gewesen und haben sowohl in Wien wie in Graz und Innsbruck einige ihrer Performances gezeigt, die wie die von Terry Fox, zu den wichtigsten Arbeiten dieses Genres zählen. Und wie Terry Fox nahmen auch sie an dem schon legendären Performance-Festival 1978 in Wien teil. Im Juni 1988 kehrten Marina Abramovic und Ulay aus China nach Amsterdam zurück, wo sie ihren ständigen Wohnsitz haben. In einer kürzeren Zeit als sie ursprünglich dafür angesetzt hatten - nämlich 1 Jahr - haben sie ein Projekt verwirktlicht, daß sie im Jahre 1984 begonnen haben. Damals unterbreiteten sie dem chinesischen Kulturministerium die Idee, die Große Mauer in ihrer ganzen Länge abzuschreiten. Marina wollte ihre Reise am östlichsten, männlichen Ende der Großen Mauer, am Gelben Meer beginnen und Ulay die seine am westlichsten, weiblichen Ende, in der Wüste Gobi. Über eine Distanz von über 5000 Kilometern wollten die beiden aufeinander zugehen und nach ungefähr einem Jahr aufeinander treffen. Dieses Aufeinandertreffen sollte das Verschmelzen komplementärer Prinzipien und das Ineinanderaufgehen von individuellen Erfahrungen symbolisieren.

Im Juni 1988 haben die beiden ihr Projekt auf der chinesischen Mauer also abgeschlossen. Vor dem Großen Marsch von Marina und Ulay auf der Großen Mauer entstand für die Territory of Art Serie des Museum of Contemporary Art in Los Angeles die Radioarbeit "Snake Bride". Und zwar aus Tonaufnahmen, die während einer vorbereitenden Reise nach China im Juli und August 1986 entstanden sind.



"Snake Bride" setzt sich aus 2 Teilen zusammen.

1. Zum ersten Teil zitiert Ulay aus den Bekenntnissen von der Großen Mauer:
"Die Erde ist klein und blau. Ich bin nur eine winzige Spur auf ihr". Ulay erinnert daran, daß die ersten Menschen, die vom Mond aus auf die Erde blickten nur eine einzige von Menschenhand errichtete Konstruktion ausmachen konnten - nämlich die Große chinesische Mauer, die als eines der 7 Weltwunder bis heute ein unergründliches Rätsel geblieben ist.
"Der Großen Mauer entlang zu reisen, bedeutet unter anderem eine Reise durch die ärmsten Gegenden in China zu unternehmen. In manchen von ihnen leben die Menschen in Höhlen oder Lehmhütten, bedroht von den Sandstürmen der Wüste Gobi."
Die 5000 Kilometer lange Reise dauerte 6 Wochen. Marina und Ulay nahmen meistens den Zug. 24 mal unterbrachen sie ihre Fahrt, unter anderem auch, um die sogenannten verbotenen Städte zu besuchen. Andere Transportmittel die die beiden Künstler benützten, waren Busse, Lastwagen, Jeeps, Kamele, Esel, Fahrräder und natürlich ihre eigenen Füße. Obwohl die Künstler sich so viel wie möglich auf und in der Nähe der Großen Mauer aufhielten, verbrachten sie natürlich auch einen Großteil ihrer Zeit in Zügen. Aus Neugierde und auf der Suche nach der chinesischen Alltagswirklichkeit reisten Marina und Ulay in den gleichen Waggons wie die chinesischen Passagiere - in den sogenannten Hart-Sitz-Abteilen. "Die Chinesen lieben es zu reisen, und wohnen sozusagen im Zug. Die Züge werden zu gemütlichen, schmutzigen, riechenden Gemeinschaftsräumen." Als Marina und Ulay ihre Reise unternahmen, war gerade Wassermelonensaison. Man konnte ganze Lastzüge sehen, deren einzige Fracht aus Wassermelonen bestand. Jeder Reisende hatte zwischen 3 und 8 Wassermelonen als Reiseproviant bei sich.
"Es war heiß. Den ganzen Tag über wurden Wassermelonen gegessen. Nur selten trank jemand Tee. Der Schmutz im Zug war unbeschreiblich. Auf dem Boden, den Tischen, den Sitzen wurde der Melonenabfall immer höher. Alles war von Melonenkernen vollgespukt. Die Züge werden von alten Dampflokomotiven gezogen und wegen der Hitze standen alle Fenster offen. Der Ruß von den Lokomotiven und der Sandstaub von draußen schufen eine ganz besonder Patina für alle Oberflächen. Man paßt sich sehr schnell an seine Umgebung an."
Sobald das einmal geschehen war, wurden Marina und Ulay völlig unbeweglich. Auf den harten Sitzen liegend, lehnend oder sitzend, waren sie nur noch empfänglich für die Geräusche, die sie umfingen.



2. Der zweite Teil der Tonaufnahmen entstand im Tempel des Himmels in Peking.
Marina und Ulay wohnten im gleichnamigen Hotel, das an der äußeren Mauer des Tempels liegt. Jeden Morgen wurden sie zu Sonnenaufgang aus dem Schlaf gerissen und zwar von Vogelstimmen, die so laut und so schön waren, daß man ihnen ganz einfach zuhören mußte. Eines Morgens standen Marina und Ulay schon vor Sonnenaufgang auf und gingen in den Park. Dort fanden sie keine Vögel, sondern viele ältere Männer vor, von denen jeder einen mit einem blauen Tuch bedeckten Vogelkäfig trug. Die Männer gingen alle in die gleiche Richtung und Marina und Ulay folgten ihnen. An einer nach Osten hin von Bäumen unbewachsenen Stelle des Parkes befestigten die Männer ihre Käfige in den Bäumen und schlugen die blauen Tücher so zurück, daß die Käfige nach Osten hin offen waren.
"In dem Moment, in dem der erste Strahl der aufgehenden Sonne auf einen Käfig fiel, begannen die Vögel mit ihrem spektakulären Konzert. In diesem Augenblick begannen die Männer herumliegende Steine umzudrehen und unter ihnen nach Würmern und Käfern als Futter für ihre Vögel zu suchen. Das alles dauerte ungefähr eine Stunde lang und wiederholte sich bei Sonnenuntergang. In diesem Zusammenhang sollte man sich daran erinnern, daß während der Kulturrevolution Order gegeben worden war, alle Vögel in den Städten zu töten."


1988 Calendar 2