KUNSTRADIO


I.

"Glossolalie"

Ein Radio-Essay mit dokumentarischem Material über "Glossolalie", dem sogenannten "Zungenreden"
von Liesl Ujvary

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Dauer: 15 Minuten

Glossolalie, das scheinbar zusammenhangslose Reden ohne Sinn und Bedeutung, spielt in den ekstatischen Erfahrungen der verschiedensten Kulturen eine große Bedeutung. In den Religionen wird es einerseits als Besitznahme einer Person vom Teufel, andererseits als Zeichen des Heiligen Geistes interpretiert. Immer aber klingt Glossolalie befremdend, ja beunruhigend für das kommunikative Ohr.

Liesl Ujvary über "Glossolalie": "Manche Menschen finden sie erschreckend und beunruhigend. In ihren Augen scheinen darin Entropie, Chaos und alles Unbegreifliche verherrlicht zu werden. Es gibt sehr wenig, woran man sich festhalten kann. Alles ist in ständigem Wechsel begriffen und entzieht sich unserer Wahrnehmung, wird schemenhaft. Das Zungenreden spielt in der Ekstase eine große Rolle, wobei dieser Umstand auf einen in den Menschen eingegangenen Dämon oder den Heiligen Geist zurückgeführt wird. Die Glossolalie ist ein Gegenpol, ein grelles Feuer, von wenigen unterhalten, am Rande einer vielköpfigen Versammlung im Dunkeln."

Die vokalischen Gebilde und diese allitterierenden Konsonantenhäufungen und Wiederholungen mit leiden Veränderungen desselben Buchstabengefüges zeigen den geistig Gebundenen, der vom Gefühl überwältigt, in bestimmten Buchstabenzusammensetzungen hängen bleibt und sie schreiend hervorstösst, ab und zu verständliche religiöse Worte einmischend.

Und als der Tag des Pfingstfestes endlich da war, waren sie alle an einem Ort beisammen. Und plötzlich entstand vom Himmel her eir Brausen, wie wenn ein gewaltiger Wind daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, worin sie sassen. Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden unter ihnen. Und sie wurden alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen auszusprechen gab. Als aber dieses Getöse sich erhob, lief die Menge zusammen, und sie wurde verwirrt. Denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie erstaunten aber alle und waren ratlos und sagten einer zum andern: Was soll das bedeuten? Andere aber spotteten und sagten: Sie sind voll süssen Weines."



1988 Calendar 1